9. Dezember 2003

Nicht schleudern!

 

"Das Wissen hilft nichts gegen die Einbildung."

Was man nicht alles macht, wenn einem der "Lebensmensch" durch die Lappen geht.

 

Erst einmal kann man dem Umstand noch eine ganze Weile ausweichen. Man kann von anderen Frauen erzählen. Kleinen Begebenheiten, alltäglichen Beobachtungen, sichernd schon einmal die Schuld abgeben, die pure Selbstüberschätzung zum Thema machen und ein bisschen die Arbeitsbedingungen schildern. Ein Computer, Notizbücher, ein Diktiergerät und ein fast altruistischer und frei herumlaufender Wesenszug, genannt Sekretär.

Es ist eine Beichte, und wie Katholiken wissen, unmöglich, aber immer wieder gern erprobt. Ein Mann sitzt am Schreibtisch und versucht, sich systematisch seine Vera zusammenzuerinnern. Und die Unvollständigkeit der Impressionen wird zur Plage. Das ergibt für den Leser eine bedrückte Liebesgeschichte, die FX Karl mit Nüchternheit und komischer Präzision in der Waage zu halten versteht. Wird doch der erste Wahlsieg der CDU 1990 in den Neuen Bundesländern zum schweren Zeichen der Trennung. Das Paar macht dorthin eine Reise, um entgeistert die Gesetze eines fremden Landes zu erleben und die Entgeisterung ihrer Liebe.

Wie funktioniert das also mit der Erinnerung. In "Memomat" gibt es dafür sehr anschauliche Beispiele, so muss der Fleischer der gebratenen Sau den Kopf abnehmen, wenn er ein Stück von ihr abschneiden will, und nachdem er das Stück in die Semmel gelegt hat, (oder der Erinnernde eben ein Stück diktiert, getippt oder gelesen hat), ihr den Kopf wieder aufsetzen und dann ist alles genauso wie vorher. Und der Verdacht, dass alle erinnerte Empfindung Konstruktion ist, verhindert eben nicht, dass weiterkonstruiert wird. Man redet sich um Kopf und Kragen und wird bald selber zur gebratenen Sau. Oder: "Es ist, als würde man sich mit jedem weiteren Satz selber mit lausigen Tattoos volltätowieren."

Mache ein Bild, ein Foto, einen interessanten Blick, ein Tattoo und "banne den Zauber" der Erinnerung, und man wird feststellen müssen, dass die Latenzen der Situation zurückweichen und nicht zu bannen sind, ja sogar an anderer Stelle sehr vital wieder auftauchen. Mache kein Foto, versuche durchzudringen, darüber hinweg - ganz schlecht! man fängt unweigerlich an zu dichten und bekommt davon natürlich einen Schreianfall.

Da hilft nur noch Musik, und "völlig unbrauchbar gewordene Wörter bekommen wieder Sinn". FX Karl macht das sehr klug, wenn er die berühmten musikalischen Latenzen nicht näher beschreibt, sondern nur auf den Leser abschickt. Man beginnt selbst zwischen Festnageln, also Bilder machen, und lyrischem Geeiere zu schleudern. Schön.

 

Nora Sdun

 

 

FX Karl, Memomat, Blumenbar Verlag 2002, 220 Seiten