17. Dezember 2011

Andy Divine

 

„Andy Warhol führt eines der traurigsten Leben, das ich mir vorstellen kann. Zieht man mal die kunstgeschichtlichen Fakten ab, bleibt nur noch eine große Unzufriedenheit. Er ist genauso beschissen dran wie Marilyn Monroe oder die anderen, die alle in dieser Falle stecken.“ Das ist ein ganz großartiges Zitat des Kurators und Warhol-Freundes Sam Green, weil es sich auf alle Leute ummünzen lässt, die irgendwie bekannt sind, sogar auf den Papst: Der Papst führt eines der traurigsten Leben, das ich mir vorstellen kann. Zieht man die religionsgeschichtlichen Fakten ab, bleibt nur noch eine große Unzufriedenheit. Er ist genauso beschissen dran wie Angela Merkel oder die anderen, die alle in dieser Falle stecken.

 

Und was sagt Andy Warhol dazu? In dieser Autobiografie? Erfährt man etwas über seine angebliche Homosexualität? Hatte er überhaupt Sex? Das wollte der Autor und Publizist John Wilcock, der zwar nicht zum Kern der Factory gehörte, aber phasenweise dort aus und einging, auch gerne wissen. Deshalb interviewte er etwa zwei Dutzend Leute, die Andy Warhol gut kannten, weil er mit ihnen zusammenarbeitete, und machte dieses Buch, dessen Titel geplant irreführend ist und wohl auf einen Vorschlag von Wilcocks damaligem Agent zurückzuführen ist. Denn das Buch, das jetzt erschienen ist, ist eine neu gestaltete, mit neuen Fotos versehene Ausgabe einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1971, von der nach ein paar Jahren nur noch ein paar Spezialisten wussten, dass es sie überhaupt gab.

 

Christopher Trela, der Herausgeber der Hannibal-Ausgabe, erzählt im Vorwort die Geschichte der Wiederveröffentlichung: Entdeckung der Originalausgabe auf einem Trödelmarkt in New York Anfang der 1990er Jahre, Suche nach John Wilcock, dem Interviewer usw. 1971 war es zehn Jahre her, dass Warhol als Werbegrafiker gearbeitet hatte, um als Maler seltsam anmutender Motive sich in Manhattan einen Namen zu machen. Die ersten Suppendosen, das erfährt man in diesen Interviews u.a. mit Leo Castelli, Henry Geldzahler, Gerard Malanga, Taylor Mead, Paul Morrissey, Nico, Lou Reed, Ultra Violet, Viva und Eleanor Ward, waren tatsächlich noch gemalt (eine nette Parallele zum King of minimalism Donald Judd, dessen 1966 auf der legendären Ausstellung „Primary Structures“ gezeigte Arbeit Untitled (Four Units) ebenfalls noch mit der Hand gefertigt worden war).

 

Ein Schwerpunkt der Interviews sind die Filme Warhols, die zahlreicher sind als man gemeinhin denkt und alle das als gemeinsamen Nenner haben, dass sie nicht von einem Regisseur gemacht wurden, sondern von einem Künstler. Andy Warhol in Hollywood ist leider ein unbeschriebenes Blatt geblieben. Diese „Autobiografie“ ist also eher eine richtige Entdeckung als eine Wiederentdeckung, 40 Jahre später steht der eigentliche Einschlag bevor. Und das ist nun alles andere als traurig.

 

Dieter Wenk (12-11)

 

Die Autobiografie und das Sexleben des Andy Warhol, von John Wilcock, hg. von Christopher Trela, Höfen 2012 (Hannibal)

 

Cohen+Dobernigg

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