19. November 2011

Bitte mitlaufen

 

Einer muss es ja machen. Einer muss ja wirklich durch die Stadt laufen, damit wir, weil wir zu faul sind oder einfach keine Zeit haben, in Form der „Kinosesselwanderung“ das nachvollziehen können, was es zu sehen gibt, was neu ist oder was durch David Wagner in einem neuen Licht erscheint. Man muss ihn nicht gleich einen Flaneur nennen, aber natürlich taucht irgendwann auch der Name Frank Hessel auf. David Wagner ist ein Stadtreiseführer, und das Buch, das er jetzt geschrieben hat, passt so bequem in unsere Spätherbst- und Vorwinterjacken, dass man es eigentlich immer dabei haben könnte. Denn er ist überall, er hat alles gesehen, von den verschiedenen Zentren bis in die Peripherie, und wie selbstverständlich gelangt er – meistens wirklich zu Fuß – von Stadtteil zu Stadtteil, und er hat immer etwas in petto, vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber wir nehmen das gerne zur Kenntnis.

 

Manches bestätigen wir gerne: So heißt es gleich zu Beginn des Kapitels „Füchse auf der Pfaueninsel“: „Es empfängt uns wirklich gleich ein Pfau.“ Aber selbst hier, wo man meinen sollte, dass alles so ist, wie es einmal war, ist vieles natürlich anders geworden: im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, und sogar innerhalb der jüngsten Vergangenheit: Wagner schreibt: „Der Pfau, der vor uns spaziert, pickt auf, was er finden kann. Für uns gibt es kein Restaurant, kein Café, keinen Kiosk auf der Insel. Die Pfauensinsel ist eine Asketeninsel...“ Mittlerweile gibt es – nach Ankunft mit der Fähre rechterhand, hinter den Brunnen und dem Bergsturzbächlein – zwei Stellwägen, freundliche Köche verkaufen Rostbratwürste und leckeren Kuchen. Gerne lauschen wir beim imaginären Mitwandern den historischen Streifzügen, den Schicksalen von Straßen und Orten und erfreuen uns an lustigen Wortneuschöpfungen, auch wenn wir die Dinge vielleicht anders ansehen: Prenzlauer Berg, zum Beispiel Rykestraße, an einer Stelle heißt es: „Und immer mehr Häuser, die vor ihrer Renovierung in einem schlichten, nackten, eingegrauten Rauputzkleid dastanden, tragen nach ihrer Renovierung plötzlich aufhübschende Stuckelemente. Haben auf einmal Gekröse. Die Geschwürhäuser sind wieder da.“ Das hat der Wiener Baumeister Adolf Loos vor gut hundert Jahren nicht viel anders gesehen.

 

In einem anderen Kapitel liest man: „Eine Bekannte spaziert auf der anderen Seite des Weinbergswegs. (...) Sie sieht mich nicht, sie schaut nicht einmal in meine Richtung. Und ich frage mich, wie oft gehe ich irgendwo vorbei und werde gesehen, ohne daß ich selbst etwas bemerke?“ Hierzu fällt mir Christian Morgenstern ein, in einem Gedicht heißt es: „Wie oft wirst du gesehen aus Fenstern, von denen du nichts weißt...“ Welche Farbe hat Berlin ist also ganz wunderbar assoziativ ausbaufähig, die  Antwort wird schon jeder selbst finden. Eigentlich wollen wir jetzt noch nicht an Weihnachten denken, aber...

 

Dieter Wenk (11-11)

 

David Wagner, Welche Farbe hat Berlin. Betrachtungen, Berlin 2011 (Verbrecher Verlag)

 

 

Cohen + Dobernigg

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