6. Oktober 2011

DER NAME DER ROSENMYRTE

 

Bisher habe ich noch keinen Beleg gefunden, dass der Krimifan Stieg Larsson Der Name der Rose wirklich gelesen hat, allerdings halte ich eine mögliche Ignoranz für unwahrscheinlich. Zumindest den Erfolg Ecos wird der aufmerksame Journalist mit ziemlicher Sicherheit registriert haben. Und wer den Prolog der Whodunit um Harriet Vanger mit wachem Verstand gelesen hat, dem werden erstaunliche Ähnlichkeiten aufgefallen sein. Die immense Textmasse und Larssons Suspense dürften jedoch dazu führen, dass dieses Pastiche von den wenigsten erkannt wurde, denn ein flüchtiges Verschlingen der spannenden Seiten reicht nicht aus, um diesen Zugang zu finden.

 

Bevor ich  medias in res gehe, sei mir eine Vorbemerkung über literarische Texte gestattet. Kein künstlerisches Werk entsteht im luftleeren Raum, vielmehr speisen sich Inspiration und Intuition der Autoren aus der Gesellschaft, in der sie sich bewegen. Religiöse Offenbarungen verleugnen diesen Zusammenhang, da sie sich jeglicher Kritik entziehen wollen und absolute Autorität für ihr jeweiliges Weltbild einfordern. Wer sich als Individuum mit seinen Idiosynkrasien an die Öffentlichkeit wagt, macht sich bestenfalls zu einer lächerlichen Figur, schlimmstenfalls folgt umgehend die Einweisung in eine Geschlossene Psychiatrische Klinik. Denn es gibt immer etwas, das die Gestalt der Welt zu einem früheren Zeitpunkt bestimmt hat. Kinder wachsen in einer Umgebung auf, die ihre Eltern, ihre Großeltern und ältere Generationen nach ihren Vorstellungen geformt haben. Deswegen muss sich jedes Buch gegen sämtliche Bestände in Buchhandlungen, Bibliotheken und sonstigen Archiven durchsetzen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Sobald es erschienen und lieferbar ist, beginnt ein Prozess, in dem jedem Buch ein Platz in der kulturellen Hierarchie des Wissens zugewiesen wird. Dieses Ringen um Anerkennung spiegelt sich subtil in dem Text an sich, denn die entscheidenden Indizien platziert Larsson in aufdringlicher Weise in den toten Ecken und Winkeln seiner Saga, wo sie zunächst schlafen, bevor sie bei einer retrospektiven Revision ihre Wirkung als Katalysatoren entfalten.

 

Auf der anderen Seite wird die Serie durch den Begriff Story geprägt, der hier in einer bestimmten Weise definiert wird: Eine Story wird von einem Storyteller erzählt, der sein Publikum manipuliert und zu gewissen Schlüssen verleitet, indem er sie nach eigenem Gusto gestaltet. Dadurch wird die Zuhörerschaft bewusst getäuscht und belogen, von offensichtlichen Argumenten abgelenkt und durch eine Strategie der Obstruktion in Zeitnot gebracht. Eine Story ist deshalb keine Offenlegung der Wahrheit, wie es das hohe journalistische Ethos von Mikael Blomkvist und der Millennium-Redaktion nahelegt, sondern ein gesellschaftliches Instrument, durch das sich Handlungen indirekt beeinflussen lassen. Ob eine Story gut oder schlecht ist, hängt deshalb nicht nur von der Qualität der Intrige ab, sondern auch von den Intentionen der Akteure. Wer eine Story hört, sollte deshalb auf der Hut sein und bedenken, welche Interessen mit der Erzählung verfolgt werden. Denn Storys können auch von Industriekapitänen wie Henrik Vanger und Hans-Erik Wennerström in die Welt gesetzt werden, um sich geschäftliche Vorteile zu verschaffen, um mögliche Konkurrenten aus dem Weg zu räumen und um sich einen Status zu erobern, der über jeglichen Verdacht erhaben ist und einen gottgleichen Zugriff auf andere Menschen gestattet.

 

Zurück zu  Eco und seinem Romandebüt Der Name der Rose: In der Tat finden sich Stieg Larssons Opus magnum erstaunliche Parallelen. In beiden literarischen Werken geht es um streng gehütete Geheimnisse, die auf den ersten Blick als Mordserie nach biblischen Vorlagen interpretiert werden können; doch diese Exegese erweist sich in beiden Fällen als Trugschluss, der den Ermittlern fast das Leben kostet. Beide Fälle zitieren ein Leitmotiv der Kriminalliteratur, das locked room mystery, einen Mordfall hinter verschlossenen Türen, aus dem ein möglicher Täter eigentlich nicht hätte flüchten können. Ort der Handlung ist ein abgelegener Mikrokosmos, hier ein Benediktinerkloster in den norditalienischen Alpen, dort eine nordschwedische Insel, die einer Industriellenfamilie gehört; beide Orte sind fiktiv, und an beide Orte grenzt ein Dorf beziehungsweise eine Kleinstadt. Dan Burstein hat den blassen Schimmer einer Ahnung, wenn er in einem seiner Beiträge in Secrets of the Tattooed Girl erklärt, bei Stieg Larsson werde unverhältnismäßig viel gedacht. Hätte er genauer hingeschaut, wäre ihm aufgefallen, dass es wie im Mönchskrimi um Wissensspeicher geht, um Texte und Archive. Die berühmte Bibliothek mit dem vergifteten Buch der mittelalterlichen Benediktiner wird von Jorge von Burgos und Malachias argwöhnisch bewacht, während bei Larsson der Schlüssel zur Klärung der Whodunit bei der Buchhaltung im Firmenarchiv liegt. Die eigentlichen Serienmörder, Jorge von Burgos und Martin Vanger, sterben bei einem Brand. Und weil in beiden Fällen die Tatorte beseitigt werden, erfährt die Öffentlichkeit innerhalb der erzählten Geschichte nie die wahren Zusammenhänge: Der Turm mit der Bibliothek brennt bis auf die Grundmauern nieder, und Martin Vangers Haus wird nach seinem 'Unfall' umgebaut, sodass seine private Folterkammer im Keller zu einem neuen Familiengeheimnis werden kann. Bei Larsson verhüllt die Action seines Plots also das intellektuelle, abstrakte Puzzle.

 

Über die Story hinaus finden sich zahlreiche weitere Anspielungen auf Ecos Vorbild, eine Italian Connection, bei der Klöster eine wichtige Rolle spielen. Der Franziskaner William von Baskerville ist schon einmal ins Visier der Heiligen Inquisition geraten, weil er den Übersetzer eines griechischen Buches verteidigt hat, wofür er zu einer Gefängnisstrafe wurde. Mikael Blomkvist muss zu Beginn der Saga vor Gericht eine Niederlage gegen den von ihm angegriffenen Wennerström einstecken, weshalb er später eine mehrmonatige Gefängnisstrafe absitzen muss. Als Blomkvists Tochter auf ihrer Reise zu einem evangelikalen Sommerlager die fünfstelligen Zahlen als Kürzel für Bibelstellen nebenher entziffert, vergleicht sie die Internierung mit ihrem rigiden Tagesablauf im Gefängnis mit dem Aufenthalt in einem Kloster. Die geflohene Harriet Vanger lernt ihren Ehemann Spencer Cochran in einem italienischen Kloster kennen, in dem sie unter ihrem Alias Anita Vanger ein billiges Zimmer gemietet hat. Im ersten Band der Serie geht Blomkvist ins Kino, um sich Der Herr der Ringe anzusehen, der Datierung nach wohl die Verfilmung des ersten Teils der Tolkien-Trilogie von Peter Jackson. Über den Umweg der Kinofassung gerät Sean Connery ins Blickfeld, der sowohl William von Baskerville als auch den ersten James Bond im der kanonisierten Kinoreihe von Saltzman und Broccoli dargestellt hat; der schottische Superstar hat den Geheimagenten im Dienst ihrer Majestät in dem Film Liebesgrüße aus Moskau dargestellt hat, dessen Titel von Mia Bergman in ihrer wissenschaftlichen Abschlussarbeit zitiert wird. Außerdem hat Mikaels Schwester, die feministische Anwältin Annika Blomkvist, einen italienischen Biotechniker namens Giannini geheiratet.

 

Und dann drängt sich das Leitmotiv der Blumen auf. Im Verlauf des ersten Bandes wird Blomkvist von einem anderen Journalisten mit dem Spitznamen Blomman geneckt, der schwedischen Vokabel für dieses Gewächs. Holmberg merkt in seinem biographischen Essay an, dass Larsson lieber auf Englisch statt auf Schwedisch las und Wortspiele liebte, zudem bewunderte der Porträtierte James Joyce. Larsson nötigt seinem Publikum durch den Hinweis auf Astrid Lindgrens jugendlichen Detektiv Kalle Blomkvist eine verengte Lesart auf, durch die andere Interpretation unsichtbar bleibt, weil sie nie explizit formuliert wird. Die Origin Story um den Journalisten wird mit einem Rätsel eröffnet, dessen Chiffren sich als Folge gepresster Blumen präsentiert, so dass es naheliegt, den Rebus als Blumen-Frage zu übersetzen, als Bloom-Queste. Als Gesten konventioneller Höflichkeit gehen all jene Blumen im Lesefluss unter, die subkutan weitere Hinweise liefern. Wenn Evert Gullberg im Sahlgrenska-Krankenhaus in Göteborg den bettlägerigen Alexander Zalachenko mit drei Kopfschüssen hinrichtet, bilden die Blutflecken auf der Wand eine Blüte mit drei Blättern.

 

Das bedeutendste Indiz reibt Larsson seinem Publikum auf den ersten Seiten seiner Serie unter die Nase, bevor es wissen kann, wie wichtige Details und Nebensächliches unterschieden werden können. Mit der Rosenmyrte hat er eine Pflanze gefunden, die als empfindliches Südseegewächs zwar exotisch wirkt, aber so unbekannt ist, dass sie keine klischierten Assoziationen abruft, und so unscheinbar ist, dass sie allzu leicht vergessen werden kann. Ihre Bezeichnung enthält den Wortteil Rose: aufdringlicher lässt sich die Hommage an Umberto da Bologna kaum unterbringen. Ihre Ankunft, ihre Enthüllung aus dem Paketpapier bringt jene Mechanik der Ermittlung in Gang, durch die Harriet Vanger nach vierzig Jahren Abwesenheit als Erbin des Vanger-Konzerns zu den Lebenden zurückkehrt. Dass sie gerade in Australien gefunden wird, ist kein Zufall, denn das Synonym für die terra australis, das Südland, lautet in der englischen Umgangssprache down under, die Insel unter dem Äquator. Durch die Perspektive des Britischen Empire für die ehemalige Strafkolonie werden zwei Begriffe für unten miteinander verbunden, wodurch ein Euphemismus für eine Unterwelt anklingt. Larsson lässt in pseudorealistischer Verkleidung den Mythos von Orpheus aufleben, der seine Geliebte Eurydike aus dem Hades zurückholen will. Im Gegensatz zu Ecos klösterlichem Wochenplan nutzt der Schwede ein Schema, das sich an das jahreszeitliche Verständnis matriarchaler Kulturen vom Blühen und Welken und erneutem Blüten jeglichen Lebens anlehnt. Harriet Vangers Rückkehr liefert das Modell der Wiederkehr weiblicher Schöpferkraft, die im folgenden Band mit der Wiederauferstehung der erschossenen und begrabenen Lisbeth Salander ein zweites Mal durchgespielt wird, diesmal im wortwörtlichen, phantastischen Sinne.

 

Das notwendige Indiz wird durch zwei hinreichende Beweise zu einem Argument ergänzt, das die Parallelen von Harriet Vanger und Lisbeth Salander untermauert. Die Rosemyrte wird für gewöhnlich als Rubinette bezeichnet. Bei seiner Suche nach Alexander Zalachenko erfährt Blomkvist, dass der Spezialist für Rollenspiel und Desinformation in der geheimen Sektion für Spezielle Analyse unter dem Decknamen Ruben geführt wurde. Aus angelsächsischer Perspektive kommt eine weitere Konnotation hinzu: In der ursprünglichen Version bei Larsson besteht die Parade zum Weltkindertag in Hedestad aus den Clowns eines Jahrmarkts. Im Slang dieses fahrenden Volks findet sich der Ausdruck rubes für das Publikum, womit Leute gemeint sind, die nichts vom wahren Leben der Schausteller und Gaukler verstehen. Lisbeth Salander kann als Tochter Rubens gelesen werden, als Rubinette. Die Motive des Verwechselns und Vertauschens, der feindlichen Übernahme werden im ersten Band sowohl von Harriet als auch Lisbeth zu ihrem eigenen Vorteil genutzt: Auf ihrer Flucht verwandelt sich Harriet Vanger zunächst in das Double ihrer Cousine Anita Vanger, bevor sie als Anita Cochran eine zweite Identität als australische Schafszüchterin annimmt. Lisbeth Salander tarnt sich bei ihrem Coup mit den Wennerström-Konten in Zürich mit den gefälschten Identitäten Ingrid Nesser und Monica Sholes. Larsson warnt schon auf der zweiten Seite bei der botanischen Exkurs zur Rosemyrte, dass diese mit einer ähnlichen, verwandten Pflanze verwechselt werden kann.

 

 Durch Lisbeth Salanders Augen und ihre traumatischen Erinnerungen erlebt das Publikum die familiäre Konstellation aus mordlustigem Vater, willfährigem und brutalem Sohn und Bruder sowie einer Tochter und Schwester, die in Notwehr ihren Erzeuger töten will. Nachdem sie Blomkvist aus den Fängen von Martin Vanger gerettet hat und in Harriets Version ihrer Verteidigung eingeweiht wurde, macht Larsson die Blaupause explizit. Denn Lisbeth klagt Harriet an, die Tötung ihres Bruders Martin unterlassen zu haben, wodurch zahlreiche Frauen seine Opfer werden konnten. Bei ihrem Duell mit Ronald Niedermann sorgt sie in der Ruine der Ziegelei in Nörrtälje dafür, dass ihr Bruder sein Leben verliert und niemanden mehr gefährden und ermorden kann. Über das archaische Motiv der Rache lässt sich in Verbindung mit den Namen eine weitere Quelle rekonstruieren. Eva Gabrielsson betont in ihrem Buch, das amerikanische Comicserien mit Superhelden für die Figur der Lisbeth Salander Pate gestanden habe. Zu den weltweit bekanntesten Serien über maskierte Virgilanten zählt The Avengers, deren deutsche Fassung unter dem Titel Die Rächer vertrieben wird.  Zu dieser Superheldengruppe gehörte zeitweise eine weibliche Figur namens The Wasp, und Lisbeth Salander nutzt dieses Pseudonym ausgiebig, einmal als Avatar in der Hacker Republik, des Weiteren in ihrem Firmennamen Wasp Industries und drittens als visuellen Teil ihres Körpers in Form einer Tätowierung an ihrem Hals. Die Vanger-Erbin wird Teil dieses Musters, sobald ihr Teilzeitname A. Vanger als korrumpierte Variante des Wortes Avenger dechiffriert wird.

 

Das namenlose Mädchen verführt William von Baskervilles Adlatus Adson von Melk, übrigens der Sohn einer reichen Familie, bei ihrer Begegnung in der Speisekammer. Die ansonsten verschlossene Lisbeth Salander schleicht sich im Verlaufe der Ermittlungen in Mikael Blomkvist's Zimmer im Gästehaus auf der Hedeby-Insel und schäft urplötzlich mit ihm. Beide Frauen verschwinden nach dem sexuellen Akt. Bei ihrem zweiten Versuch, bei den Mönchen Fleisch gegen Fleisch zu tauschen, gerät der Schober in Brand, wodurch Salvatore und das Mädchen ertappt werden. Die Ergriffenen werden von dem Inquisitor Bernardo Gui voreilig des mehrfachen Mordes angeklagt. Lisbeth Salander wird ein dreifacher Mord zur Last gelegt. Zu Beginn beider Prozesses scheint es unwahrscheinlich, dass das Mädchen dem drohenden Scheiterhaufen und Lisbeth Salander einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe entrinnen werden, aber beide werden aus den Klauen einer menschenverachtenden Justiz befreit, die anderes im Sinne hat als Gerechtigkeit. Bernardo Gui muss überstürzt vor dem erzürnten Volk flüchten, stürzt in seiner Kutsche einen Abhang herunter und spießt sich an den Folterinstrumenten der Heiligen Inquisition auf. Martin Vangers Spurt zu seinem Geländewagen, um Lisbeth Salander zu entkommen, die ihn zunächst mit einem Golfschläger angreift und ihn dann auf ihrem Motorrad jagt, endet ähnlich. Weil er verletzt ist, hat er seinen Wagen nicht mehr unter Kontrolle und stößt mit einem entgegen kommenden Holztransporter zusammen, wodurch sein Fahrzeug von der Straße abkommt und um die eigene Achse kreiselnd einen Abhang herunter rollt. Durch einen elektrischen Kurzschluss entzündet sich ein Brandherd inmitten tröpfelnden Benzins, so dass der Wagen explodiert und ausbrennt.

 

 Larsson baut eine zweite Brücke zu Umberto Eco, diesmal zu dessen zweitem Roman, Das Foucault'sche Pendel, in dem eine Verschwörung um den mittelalterlichen Orden der Tempelritter im Mittelpunkt steht. Bei ihrem Auftrag für Dirch Frode und Henrik Vanger, den sie als Mitarbeiterin von Milton Security ausführt, befasst sie sich mit der ersten Publikation des Enthüllungsjournalisten Blomkvist, seinem Sachbuch über die Finanzwirtschaft. Dessen Abrechnung mit den Machenschaften der Analysten mit ihren kreativen Spekulationsproduktionen sowie den sogenannten Experten der willfährigen Wirtschaftspresse heißt Die Tempelritter. Strafaufgabe für Wirtschaftsjournalisten. Diese Übereinstimmung halte ich für einen Wink mit dem Zaunpfahl.

 

 Eco und Larsson bauen ihre Palimpseste allerdings durch diametral unterschiedliche Dramaturgien auf. Der Mediävist nutzt die klassische Herausgeberfiktion, in der ein alter Mönch erzählt, was ihm in seiner Jugend zugestoßen ist. Weitere Texte werden über den Disput zwischen den Abgesandten des Papstes aus Avignon und dem Orden der Franziskaner eingeflochten, wobei die Kirchenväter als Autoritäten aufgerufen werden und den Bettelmönchen bei einer Niederlage die Verfolgung durch das Heilige Offizium des römisch-katholischen Pontifikats droht. Durch William von Baskerville ergänzen Werke antiker griechischer Philosophen den postmodernen Quilt, in erster Linie die von Eco fingierte Abhandlung über die Komödie aus der Feder des Aristoteles. Blomkvist und Salander lesen Polizeiberichte, durchforsten Firmenarchive und nutzen Computer, um durch automatisierte Suchfunktionen Pressearchive systematisch nach ungeklärten Mordfällen in Schweden zu durchleuchten. Die falsche Spur über biblische Referenzen wird im Vanger-Fall besonders betont, weil er bei der Punkerin Salander ein fotografisches Gedächtnis ahnt. Sein Verdacht gründet auf einem historischen gesellschaftlichen Wissen, denn zwei oder drei Generationen früher wäre jemand eher dadurch aufgefallen, keine Bibelverse zu kennen und wortwörtlich aufsagen zu können. Wie in Der Name der Rose können die beiden Ermittler das Geheimnis nur lüften, nachdem sie einen Geheimweg durch die Krypta einer Kirche gefunden und sich mit den Apokryphen beschäftigt haben. Blomkvist lässt sich von der ersten Pfarrerin in Hedeby, Margarethe Strandh ausführlich über die nicht kanonisierten Bücher der Bibel belehren. Diese Szene habe ich bei meiner ersten Lektüre als Hommage an Eco ausgelegt. Durch seine Auswahl der relevanten Bibelstellen hat Larsson das erzählte Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf den Kopf gestellt: Bei den aufgeregten Benediktinern und Franziskanern wird die Offenbarung des Johannes aus dem Neuen Testament als Prophezeiung des demnächst kommenden Untergangs der Welt fehlinterpretiert; die Ermittler des 21. Jahrhunderts beißen sich an Stellen aus dem alttestamentarischen Buch Levitikus fest, vor allem an einer Stelle, in der es um Wahrsager und Sternendeuter geht. Die biblischen Rekurse müssen deshalb auch selbstreferentiell verstanden werden.

 

Als subjektiv gefärbter Rückblick eines Zeitgenossen bastelt Eco sein belletristisches Patchwork ex post aus vorliegenden Texten. Larsson erzählt ex ante darüber, wie die Beiträge des Journalisten Blomkvist entstehen – oder auch nicht. Ecows spöttischer Blick auf eine anachronistische Wissenschaft mit theokratischen Vorzeichen weicht bei Eco einer Reihe von Redaktionskonferenzen unter heftigem Zeitdruck, die juristisch wasserdicht sein müssen und auf dem Pressemarkt ihre Kosten einspielen müssen. Verstümmelte Zitate, lügende Zeugen und fragmentierte Texte finden sich bei Eco und bei Larsson. Beide Werken strotzen vor Fachwissen und komplexen Inhalten, die den Zugang eher erschweren und kaum Zugeständnisse an leichte Verständlichkeit machen. Larsson enthüllt die Künstlichkeit seines Werkes durch eine Technik, die er zwanzig Jahre lang in untergeordneter Stellung beim schwedischen Nachrichtendienst TT perfektioniert hat. Dort hat er Illustrationen, Tabellen, Karten und Graphiken angefertigt und an den richtigen Stellen in die Meldungen eingepasst. Durch typographisch markierte Zitate, Karten, Lagepläne und Schlagzeilen raut Larsson die Oberfläche seines heterogenen Textgefüges sichtbar auf.

 

Larsson ist in einer Region in Nordschweden aufgewachsen, in der die fiktive Insel Hedeby verortet ist, aus jedoch auch überdurchschnittlich viele schwedischen Autoren stammen. In seinen Biographien wird kolportiert, wie er in seiner Jugend bei einer politischen Veranstaltung in Umeå einem fast gleichaltrigen Jungen mit ähnlichen Interessen begegnet ist, der ebenfalls Stig Larsson hieß. Weil der eine Stieg mehrmals die Post des anderen Stig erhielt, einigten sich die beiden ambitionierten Autoren darauf, dass einer von ihnen ein 'e' im Namen führte, der andere nicht. Der überlebende Stig Larsson ist mittlerweile ein renommierter Romancier, Dichter, Theaterautor und Filmemacher, dessen Werk als postmodern kategorisiert wird. Holmberg zitiert in seinem Beitrag über das Leben des Millennium-Autors, dass der etablierte Stig Larsson, der sicherlich von einem kleineren Publikum geschätzt wird, die handwerklichen Qualitäten seines verstorbenen Namens-Doppelgängers preist. Ich empfinde es als literaturgeschichtlichen Treppenwitz, wenn ein vorwiegend im eigenen Land und einer Elite aus Nordisten und Skandinavisten bekannter Schriftsteller innerhalb weniger Jahre durch den Millionenerfolg eines Doubles auf seinem eigenen Terrain in den Schatten gestellt wird. Der Verfasser der Millennium-Saga erweist sich letztlich als der weltbeste Stieg Larsson.

 

Britta Madeleine Woitschig (09/2011)