5. September 2011

Digitale Emblematik

 

Knapp ein Jahr nach ihrer Heirat reisen Elisabeth Förster-Nietzsche und ihr Mann Bernhard Förster im Februar 1886 nach Paraguay. Verspätete Flitterwochen? Bernhard jedenfalls reist mit Plänen, er möchte eine deutsche Siedlung in Paraguay stiften. Ihr Name lautet: nueva Germania. Das Pikante der eher privatistisch initiierten Expeditionsromantik: Bernhard ist Antisemit und damit rassistische Avantgarde, denn das Wort Antisemitismus ist da gerade einmal ein paar Jahre alt. Bereits 1889 begeht Bernhard Selbstmord. Die Siedlung? Dümpelt so vor sich hin. Elisabeth kehrt nach Deutschland zurück, sie wird sich nun um ihren zwei Jahre älteren Bruder kümmern, dessen philosophische Expedition in Richtung Übermensch tragisch gescheitert war.

 

Die Siedlung NG gibt es heute immer noch. Und zu Beginn des neuen Jahrtausends fanden sogar Expeditionen mit sich anschließenden Seminaren dort statt. Veranstalter? Ein gewisser David Woodard, US-Amerikaner, Dirigent und Komponist und, wie man diesem Briefband entnehmen kann, mit Neigung zum Skurillen. Der Schriftsteller, Publizist und Reisende Christian Kracht wird durch einen Artikel der deutschen Journalistin Nika Scheidemandel über David Woodards „Dreamachine“ auf den Amerikaner aufmerksam. Der Artikel erscheint in Krachts unzeitgemäßem Magazin Der Freund, Nr 1. Kracht und Woodard stellen schnell Gemeinsamkeiten fest. So die Liebe zu Nordkorea, das touristisch ebenso unterversorgt ist wie NG.

 

Aber es ist eine ganz andere Liebe, vor der der Leser dieser Sammlung von Briefen – fast unabhängig von den aparten Themen – ganz und gar erstaunt, denn der digitale Brief erreicht hier schwerelos die Dignität seines analogen Vorgängers. Und das ganze ist auf Englisch. Die neuen Freunde treffen sich zum ersten Mal in der wirklichen Welt in NG. Sie wissen, dass das Territorium nicht ganz neutral ist, immerhin hat hier ein gewisser „Joe“ (Josef Mengele) seinerzeit Unterkunft gefunden. Das Ziel dieser Reise? Sagen wir: Es wird ein gewisses Spiel gespielt, ein Spiel, dessen höchster negativer Einsatz der symbolische Tod des Spielenden bedeuten würde. Ein Spiel, das man irgendwie kontrollieren muss, auch wenn man von Anfang an weiß, dass man es möglicherweise irgendwann nicht mehr kontrollieren kann. Kracht und Woodard träumen und realisieren den modernen Expeditionstraum und schalten dann und wann um auf postmodernen Avatarstatus. Kein Wunder, dass irgendwann ein weiterer Wanderer zwischen den Welten auftaucht, Christoph Schlingensief, dessen operatives Handeln in Sachen kulturaler Siedlungstätigkeit mehrheitlich anerkannt ist.

 

Ein anderes Ziel der Tätigkeiten, zumal David Woodards, liegt in einem weniger riskanten Feld, man könnte es fast klassisch nennen: Im Sommer 2006 schreibt er einem momentan an sich selbst zweifelnden Christian Kracht: „... the purpose of my work is to cause others to scratch the head – useful when the head is overly unscratched.“ Aber bevor der Leser dieses Briefwechsels schon mal prophylaktisch den nächsten Dermatologen ausfindig macht, sollte ein beherzter Blick in die ersten gewechselten Briefe ein wenig die Aufmerksamkeit dahin lenken, was diese Briefe eben auch leitet: nichts weniger als der Einsatz „paranormaler Tonbandstimmen“ und die Lust am barocken Maskenspiel. Dieser Briefwechsel bringt uns die emblematische Literatur wieder zurück. Nichts ist vergangen, es kommt alles, im neuen Gewand, wieder.

 

Dieter Wenk (08-11)

 

Christian Kracht/David Woodard, Five Years. Briefwechsel 2004-2009, Vol 1: 2004-2007, hrsg. von Johannes Birgfeld/Claude D. Conter, Hannover 2011 (Wehrhahn Verlag)

 

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