22. August 2011

Artistik

William Tuner, Burning of the Houses of Parliament, Farbstudie aus dem Skizzenbuch Burning of the Houses of Parliament (Finberg CCLXXXIII), 1834, The Tate Gallery, London, Digital Image, © Tate, London 2010

 

Hamburg ist die Stadt der feinen, kleinen Ausstellungen. Die Turner-Ausstellung im Bucerius-Forum ist so eine.

 

William Turner – Bucerius Kunst Forum

Hamburg (2. 6. – 11. 9. 2011)

 

Ich dreh mich um –

Der Mann, der mir entgegenkam,

vergeht im Nebel.

 

Das ist William Turner. Nicht nur des Nebels, sondern auch der Form der Momentaufnahme wegen. Das Haiku ist von Shiki (1866–1902), bei dem jede Zeile, wie für Haikus typisch, eine Wendung markiert.

 

Bis heute ist uns Turner so selbstverständlich nah, das gilt in besonderem Maße für seine Zeichnungen und Aquarelle, wie der Boden unter unseren Füßen, unsichtbar. Er selbst war bereits zu Lebzeiten (1775–1851) berühmt und blieb es posthum. Die Hamburger Turner- Ausstellung erzählt von der Vermischung der Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer und entmischt mit diesem Ordnungswillen gleichzeitig. Turner provoziert einen solchen Ordnungswillen, allein durch die Anzahl seiner Arbeiten. Nach seinem Tod fand man einige Hundert Ölgemälde und über 19.000 Zeichnungen und Aquarelle. Turners Arbeiten sind klassische Manifestation, und das hält ihn bis heute lebendig. Sie manifestieren die Begriffspaare komplex und kompliziert, farbig und bunt. Zu dieser philosophischen Ambivalenz kommt eine Form der Verkettung von Wort und Bild, die oft übersehen wird.

 

Zunächst erscheint Turners Maler-„Trick“ einfach. Er verwischt Konturen und löst die Horizontlinie auf. Dadurch verliert der Betrachter, auf der Suche nach Anhaltspunkten, signifikante Linien, Umrissen und geschlossenen Formen die Orientierung. Die Koordinaten der Zuschreibung verschwimmen. Die artistische Verwirbelung von oben und unten, Farbraum und malerischer Geste greifen untrennbar ineinander. Es entstehen Räume, in denen die Dinge sich von ihren Namen auszuruhen scheinen. Dabei ermüdet der Betrachter. Seine müde Hingabe verwischt den Wachzustand des Denkens. Auch das ist ein Balanceakt, im Sinne der Ausstellung, zwischen Himmel Erde, Wasser und Feuer. Das klingt romantisch, ist es aber nicht. Turners Artistik ist vergleichbar mit der auf einem Drahtseil, dessen Seilenden, jenseits aller Rauschhaftigkeit, fest im Wörtlichen verankert sind. Artistik meint hier die Mischung aus Balance und Disziplin. Dabei dient der Begriff der Artistik, den schwammigen der Kunst zu umgehen. Artistik meint die disziplinierte Übung, besser werden zu wollen; Zielgerichtet, präziser, genauer, lockerer. Und das jenseits der Parameter einer Zirkusartistik von höher, schneller, weiter. Die Parameter heißen komplexer, nicht komplizierter, und farbig statt bunt, und schließen Lebensfragen nicht aus. Denn wer möchte schon ein kompliziertes Leben führen?

 

Turner kommentierte nahezu alle, nicht nur die Ölbilder, seine Arbeiten entweder mit genauen Wetter- und Ortsangaben oder gar ganzen Texten. Es ist, als benötigten seine Bilder noch einen Anker im Wörtlichen. Seine berühmten Bilder heißen »Schneesturm von 1842«, mit dem Zusatz ... Der Maler hat diesen Sturm ... erlebt. Frieden ... Beisetzung auf See von 1842. Oder Sklavenschiff ... Slavers throwing overboard the Dead and Dying — Typhoon coming on, von 1840.

Bei aller Rauschhaftigkeit, die sich bei seinen Bildern einstellt, verankern die Titel diese fest in Ort und Zeit.

Darauf hat bereits der Schriftsteller John Berger hingewiesen und bezeichnete Turner zusätzlich als den Maler von gewalttätigen Szenen. Von Natur- und Kulturgewalten, könnte hinzugefügt werden. Dazu passt die Anekdote, dass er sich bei einem Sturm an einen Schiffsmast hat binden lassen, um jenen leibhaftig zu erleben. Die Odysseus-Geste, der Gleiches beim gefährlichen Gesang der Sirenen mit sich geschehen ließ, zeigt die zwiespältigen Gefühle von Nähe und Distanz, Gefühl und Vernunft, dem Erleben von Elementarem und Sicherheit. Was wir auch heute noch, wie gefesselt vor dem Fernseher sitzend, bei schockierenden Fernsehbildern erleben. Hierzu passt auch Turners quasi dokumentarisch wirkender Bildaufbau, der den Betrachter auf Distanz des (oft gewalttätigen) Geschehens hält. Beleuchtet von einem Licht, das ich das der Aufklärung nenne. Dessen Quelle das Geschehen nicht bühnenhaft von außen beleuchtet, sondern inmitten des Bildraums die Bildoberfläche zu durchbrechen scheint.

 

Die Hamburger Ausstellung zeigt den „ganzen“ Turner nur bedingt. Aber in jedem Turner ist immer auch der ganze enthalten. Wobei die Aquarelle dem Haiku-Turner am nächsten kommen. Der vorbereitende Streif eines Übungsstrichs oder der unbewusste Farbwischer sind wie Momentaufnahmen der Jetztzeit. Farbrutscher, gepaart mit der Naturhaftigkeit von Flecken, schleudern den Betrachter in eine skizzenhafte Gegenwart. Das Jetzt wird zum Scharnier zwischen noch nicht und schon nicht mehr, die Arbeiten scheinen wie gestern aquarelliert. Das Sujet Wasser, in seinen verschiedenen Aggregatszuständen, kann hier wie eine Metapher gelesen werden. Auch in diesem Sinne sind Turners Bilder Scharnierbilder, von einer einzigartigen malerischen, handwerklichen, artistisch oder künstlerischen, wie immer man möchte, Intelligenz. Dass sie Klassiker sind, heißt dabei nur, dass sie immer wieder verlebendigt werden müssen, und diese Ausstellung trägt dazu bei.

 

Christoph Bannat