17. Juli 2011

Anarchie in München

 

Erich Mühsam: Anarchist. Und: ermordet im KZ Oranienburg. Das ist es aber auch schon, was man zu dem guten Mann zu erinnern weiß. Gar nicht zum Beispiel, dass Mühsam ca. 7000 Seiten Tagebuch verfasste. Im Verbrecher Verlag soll nun all das, was Mühsam an seinem Leben für aufzeichnungswürdig empfand, in insgesamt 15 Bänden erscheinen, der letzte im Herbst 2018, so sieht es der Editionsplan vor. Man muss aber selbst überhaupt kein Anarchist sein, um dieses Tagebuch – das ist jedenfalls der Eindruck des ersten Bandes – goutieren zu können.

 

Gewiss, Mühsam neigt zur Redundanz (die gleichen Kaschemmen, die gleichen Leute, die er trifft, die Probleme, die ihn ständig begleiten), aber der gossip ist doch sehr unterhaltsam vorgetragen, und von Theorielastigkeit kann keine Rede sein. Mühsams Tagebuch setzt 1910 ein, er ist 32 Jahre alt. Er hat keinen Beruf (den Apothekerjob hat er an den Nagel gehängt), er hat keine Frau (dafür mehrere Freundinnen mit unterschiedlichen Hintergrundstrahlungen), er hat keine rechte Perspektive (immerhin stampft er eine Zeitschrift, Kain, aus dem Boden), aber er hat gerade einen Prozess hinter sich, der ihn auch gesundheitlich einigermaßen angegriffen hat. Seine Familie ist sauer auf ihn, weil er das bürgerliche Leben aufgeben hat, er wiederum begreift die Knauserigkeit der Verwandschaft nicht und sehnt nichts ärger herbei als den Tod des Vaters, der ihn finanziell sanieren würde, Stichwort Erbschaft. Weil aber der Vater nicht sterben will und Erich nicht der Fleißigste zu sein scheint, kämpft er sich von einem Tag zum anderen. Er schreibt dann doch den einen oder anderen Artikel, das heißt aber noch lange nicht, dass das zu erwartende Geld auch tatsächlich gezahlt wird. Dann wollen Freunde und falsche Freunde unterhalten sein. Mühsam denkt an sie alle. Aber denkt er auch an sich? Die Schuhe sind nicht präsentabel, ein neuer Anzug in weiter Ferne – eine Iwar-van-Lücken-Figur erscheint zwischen den Zeilen. Dann plagt ihn drei Monate lang, von April bis Juli 1911, ein arger Tripper, der den „Erotiker“, als den sich Mühsam begreift, völlig außer Gefecht setzt.

 

Aber auch in erotischer Gefechtsbereitschaft hat Mühsam oft mehr von einem ambitionierten Pennäler als von einem souveränen Casanova. Ist es der Bart, der die Frauen abschreckt? Oder seine bekannte Mittellosigkeit? Wenn es sich nicht so komisch lesen würde, könnte man fast von einer Frauentragödie sprechen. Jeder kassierte oder vergebene Kuss wird vermerkt, Geplänkel überwiegen koitale Vollzüge. Else Lasker-Schüler ist natürlich ein anderes Kaliber, ihre aktuelle Tino-von-Bagdad-Inkarnation lässt nicht nur Mühsam, sondern auch andere wie Heinrich Mann befürchten, dass diese Frau völlig durchgedreht ist.

 

Erich Mühsam schreibt dieses Tagebuch (auf fast jeden Tag entfallen mehrere Seiten) mit dem Bewusstsein, dass es einmal, und sei es nach seinem Tod, auch veröffentlich werden wird. Am 3. Oktober 1910, in Heft 1, schreibt er: „Ob sich in 80 oder 100 Jahren mal jemand findet, der meine Tagebücher der öffentlichen Mitteilung für wert halten und herausgeben wird, kann ich nicht wissen.“ In der Tat, die Tagebücher haben eine abenteuerliche Reise hinter sich bringen müssen (vgl. dazu das Nachwort zu dieser Ausgabe), bevor sie nun, ziemlich genau 100 Jahre „danach“, das Licht der Welt erblicken. Das ist schön. Das dazugehörige Register gibt es kostenlos im Internet unter www.muehsam-tagebuch.de. Im Frühjahr 2012 erscheint voraussichtlich Band 2 (1912-1914). Wir freuen uns jetzt schon.

 

Dieter Wenk (07-11)

 

Erich Mühsam, Tagebücher, Band 1, 1910-1911, hg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin 2011 (Verbrecher Verlag)