25. Juni 2011

Un-Ort

 

In seiner von aller Inszenierung befreiten, nackten Prosa der auf sechs Zyklen angelegten Erzählungen aus Kolyma präsentiert Warlam Schalamow das russische Arbeitslager als Dystopia. Der Gulag ist der Un-Ort, an dem sich der Mensch vom Tier einzig unterscheidet, weil er verzweifelt an seiner Existenz hängt. Selbst unter den widrigsten Bedingungen steht er wieder auf und kriecht rücksichtslos, den Nebenmann in den Schnee tretend, weiter, statt der Lebensqual im Lager ein Ende zu setzen und im ewigen Eis einfach liegen zu bleiben und zu erfrieren.

Dies konnten die Leser der ersten zwei Kolyma-Zyklen Durch den Schnee und Linkes Ufer, die in den letzten Jahren erschienen sind, lernen. Inzwischen liegt der dritte Band Künstler der Schaufel mit den Erzählzyklen 3 & 4 vor, und der vierte Band mit den abschließenden beiden Zyklen erscheint im Herbst dieses Jahres unter dem Titel Die Aufweckung der Lärche. Schalamows Erzählungen haben inzwischen zahlreiche Leser gefunden und alle konnten bei der Lektüre in den Abgrund des menschlichen Daseins blicken. Immer und immer wieder ging der Leser mit den Personen hinaus aus den spärlich geheizten Hütten in den ewigen Schneesturm Sibiriens, stand in zerrissenen Fußlappen im kristallklaren Eiswasser in den Gruben an der Kolyma, zankte er an der Essensausgabe um den Kanten gefrorenes Brot und sah dem Nebenmann beim Sterben zu. Das Grauen, welches aus diesen völlig ohne jede moralische Wertung geschriebenen Geschichten aufstieg, zog den fassungslosen Leser in seinen quälerischen Bann. Sie muten dem Leser zu, sich der Wahrheit des Gulags zu stellen, sich zumindest reflektierend selbst diesem ewigen Eis auszusetzen – wobei die unmenschlichen Temperaturen der sibirischen Steppe nur noch von den zerstörerischen Wirklichkeiten des menschlichen Miteinanders übertroffen wurden.

Den dritten Band nun in der Hand haltend stellt sich zwangsweise die Frage, ob man sich dieser zweifelhaften Faszination noch einmal aussetzen möchte. Es ist keineswegs der Fall, dass Schalamows Prosa nicht lesenswert wäre, ganz im Gegenteil. Eine Literatur, die aufklärerischer und humanistischer über das Leben im Gulag erzählt, wird man nicht finden. Aber diese Literatur ist in ihrem schonungslosen Realismus eben auch eine Zumutung. Warum sollte man sich ihr wieder und immer wieder aussetzen?

Vielleicht weil Alexander Solschenizyn in Warlam Schalamow zweifellos seinen Meister findet, auch wenn anfangs die Bewunderung für dessen frühe Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch groß ist. Direkt nach der Veröffentlichung der Erzählung schreibt er ihm im November 1962 euphorisiert: „Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen – ich habe Ihre Erzählung gelesen, noch einmal gelesen, mich zurückerinnert  … Die Erzählung ist wie ein Gedicht – alles daran ist vollkommen, alles ist schlüssig. Jede Zeile, jede Szene, jede Kennzeichnung ist so lakonisch, klug, fein und subtil …“ Doch diese Euphorie wandelt sich in den kommenden Jahren in Ernüchterung. Zehn Jahre später schreibt Schalamow an den Schriftsteller Aleksandr Kreminskij: „Solschenizyn kennt und versteht das Lager nicht.“ Statt zu berichten, würde er belehren wollen und in der Tolstoj’schen Tradition des religiösen Schreiberlings so fortfahren, als sei nichts gewesen. Der Literatur zuliebe käme es bei Solschenizyn zur „Ästhetisierung des Bösen“, in der „ein Lob auf Stalin“ mitschwinge. „Was wir brauchen“, schreibt er an Kreminskij nach einer seitenlangen Kritik an Autoren wie Tolstoj, Bunin, Tschechow und auch Solschenizyn, „ist die Arbeit an der russischen Erzählung, an der Auffrischung der russischen Prosa.“

Zu dieser Auffrischung hat Schalamow wesentlich beigetragen. Es ist eine Intensivierung, Verdichtung und Zuspitzung des zu Erzählenden in der Rekonstruktion des Erlebten. Seine Alltagsbeschreibungen aus dem Lager gewinnen in ihrer Schmucklosigkeit und Einfachheit an Brisanz und Relevanz. Solschenizyns Hauptwerk Der Archipel Gulag wirkt dagegen blass und fern von der Wirklichkeit. Ihm fehlt in seiner zuweilen spröden Historizität die Schalamow’sche Eindringlichkeit, das von Herzen kommende Verzweifeln, Schimpfen und Fluchen, die körperliche Mattigkeit und die lethargische Gleichgültigkeit des abgestumpften Lagerinsassen, ohne welches der Lageralltag unmöglich beschrieben werden kann.

Schalamow kennt den Gulag wie kein anderer russischer Literat. Fast 20 Jahre war er der unmenschlichen Lebensfeindlichkeit des russischen Lagers ausgeliefert, immer dem allgegenwärtigen Tod nahe. Wie schreibt man über diese Zeit, ohne sich selbst zu verlieren im persönlichen Leid? Wie dringt man zur Wahrheit des Lagers durch? „Durch Kürze, Einfachheit und Abtrennen von allem, das man als Literatur bezeichnen könnte. Die Prosa muss schlicht und klar sein. Die gewaltige Sinn-, und vor allem die gewaltige Gefühlsgeladenheit verhindert, dass Zungenbrecher, Belanglosigkeiten, Wortgerassel aufkommen.“ Dies erklärt Schalamow selbst in dem im bereits im Sommer 2009 erschienenen Band Über Prosa, der Aufzeichnungen und Briefe Schalamows enthält und die größtmögliche Annäherung an das Werk des Russen ermöglicht. Darin schreibt er, was seine Erzählungen in seinen Augen sind (eine „Fotografie der Vernichtungslager“), wovon sie erzählen (dem „Schicksal von Märtyrern, die keine Helden waren, sein konnten und wurden“) und was sie aufzeigen („neue psychologische Gesetzmäßigkeiten […], Neues im Verhalten des Menschen, der auf die Stufe eines Tieres reduziert ist.“). Vo allem aber die enthaltenen Briefe an Boris Pasternak, Alexander Solschenizyn, Natalja Stoljarowa, Nadeshda Mandelstam, Julij Schrejder und Aleksandr Kremenskij erhellen das Verständnis seines Schaffens.

Was treibt einen an, immer wieder in die ungeliebten Erinnerungen des Erlebten einzusteigen und ihnen nachzugehen? Was motiviert, um sich immer wieder den Bildern des Schrecklichen auszuliefern? Zum einen sicher der zwanghafte Trieb, das Unfassbare zu verstehen. An den russischen Lyriker Boris Pasternak schrieb er am 24. Dezember 1952 aus dem sibirischen Exil: „Das, was mich zu Bleistift und Papier greifen lässt, ist stärker als ich.“ Das Niederschreiben seiner Erzählungen ist „die Rechtfertigung meines Lebens, des so mühsam und schmerzlich gelebten“. Zum anderen aber auch das Gefühl einer Verpflichtung gegenüber seiner Generation und der Nachwelt. „Der Mensch muss etwas tun!“

Er selbst schrieb und schrieb und schrieb. Ergebnis ist der sechsteilige Zyklus seiner unvergleichlichen Kolyma-Erzählungen. In diesen versucht er, in der literarischen Darstellung zahlreicher Einzelschicksale eine neue Form des Fixierens der Fakten zu finden. Sein Ziel ist nicht das vergebliche Zeichnen eines Gesamtbildes, wie dies Solschenizyn mit seinem Archipel Gulag versuchte, sondern die Kreation eines Panoramas in Fragmenten. Kohärenz entsteht hier nicht auf der prosaischen Ebene, sondern im erzählten Stoff.

Aus genau diesem Grund ist auch der dritte Kolyma-Band nicht nur lesenwert, sondern verpflichtet geradezu zur Lektüre. Um eine Ahnung von der Komplexität und Abgründigkeit des Gulags zu erhalten. Die von Schalamow in sechs Zyklen zerschnittene „Fotografie der Vernichtungslager“ kann nur zusammensetzen, wer sich zuvor der Betrachtung aller Einzelteile aussetzt.

In dem vorliegenden dritten Band sind zwei Teile des Zyklus enthalten, einer davon der Titel gebende Band Künstler der Schaufel. Zum „Künstler der Schaufel“ ernennt ein Brigadier einen Gefangenen in einer der Erzählungen, nachdem er dessen rhythmischen, fast musikalischen Ablauf seines Arbeitens beobachtet hatte. Nachdem Schalamow in den ersten beiden Bänden den unmenschlichen Alltag im Lager und die lebensfeindlichen Umstände im hohen Norden beschrieben hat, deckt er hier die Funktionalität des Systems auf, in dem jede Sicherheit nur eine vermeintliche ist und als solche das Vorspiel zu einem neuen Akt der Willkür ist. Wer diesen verübt, ob der Mitgefangene oder der Wärter, ist niemals klar, denn Solidarität unter Gefangenen gibt es unter den Umständen des Lagers nicht. „Das Schlimmste an hungernden Menschen ist ihr Verhalten. Alles ist wie beim gesunden, und trotzdem sind sie Halbverrückte. Hungernde kämpfen immer verbissen um Gerechtigkeit – wenn sie nicht zu hungrig, nicht zu ausgezehrt sind. Sie sind ewige Streithähne, verzweifelte Raufbolde.“ Nicht selten enden die Raufereien, die Schalamow beschreibt, im Kampf um Leben und Tod. Es gilt das Gesetz der Taiga, das da ebenso simpel wie einleuchtend lautet: „Jeder rettet die eigene Haut.“

Wie brutal dieses Gesetz ist und welche Abgründe sich unter seiner Geltung auftun, zeigt Schalamow in seinem vierten Zyklus Skizzen der Verbrecherwelt, der im dritten Band enthalten ist. Dieser unterscheidet sich deutlich von den bisher erschienen Zyklen. Zum einen ist er im Gegensatz zu den anderen Zyklen das Konzentrat einer einzigen Schaffensphase. Völlig untypisch für Schalamows instinktives Schreiben ist der gesamte vierte Zyklus im Jahr 1959 entstanden. Und auch stilistisch stellen die Skizzen der Verbrecherwelt einen Unterschied zu den ersten drei Zyklen dar. Das prosaische Element weicht hier der historischen Dokumentation, an die Stelle des Erzählers Schalamow tritt der Analytiker. Denn er kann hier nicht mehr aus dem Vollen schöpfen, kann eigenes Empfinden und Tun hier nicht berücksichtigen, sondern muss sich ganz auf das Beobachtete in der Erinnerung verlassen. Nichts desto trotz sind auch diese Skizzen von einem beeindruckenden Geist der Aufklärung durchdrungen. Auch hier gelingt es ihm, um ein Bonmot des von ihm geschätzten Dichters Boris Pasternak über die Literatur zu verwenden, „Außergewöhnliches an gewöhnlichen Menschen zu entdecken und darüber mit gewöhnlichen Worten Außergewöhnliches zu sagen“.

Er selbst war nie Teil der Verbrecherwelt, die er hier aus diesem Grund nur in Skizzen fassen kann. Er macht sich das nicht zum Verdienst, da man schließlich nicht als Verbrecher geboren, sondern zu einem gemacht werde. Doch wem das „Gift der Ganovenwelt“ erst einmal injiziert und wer im Lager zum Verbrecher geworden ist, der hatte nichts Menschliches mehr an sich: „… jedes Tier wäre vor jenen Handlungen zurückgeschreckt, die die Ganoven mit Leichtigkeit begehen.“ Sie überfallen, rauben, erpressen und morden die anderen Lagerinsassen in aller Öffentlichkeit. Ihre Frauenverachtung könnte größer kaum sein, sie schlagen, vergewaltigen und schänden jeden weiblichen Körper, ganz unabhängig von Alter oder Status. Sie suchen dafür nicht die dunkle Ecke, denn die Demonstration ihrer Skrupellosigkeit stärkt ihre Furcht einflößende Macht in der Baracke. In einer Welt, die ferner von Heimat und dem Einflussgebiet der Mutter nicht entfernt sein könnte, sind offensichtlich alle Werte aus den Fugen geraten. Wo alle Grenzen, die Menschlichkeit und Humanität gebieten, eingerissen wurden, blieb jedoch ein Urinstinkt des Menschen übrig. Denn einzig für die Mutter des Ganoven gilt eine Ausnahme von den brutalen Gesetzen der Ganoven; sie wird verehrt und besungen. Die kindliche Mutterliebe des Ganoven ist ebenso blind, wie seine brutale Raserei im Lager: „Mit derselben Zügellosigkeit und Theatralik, die den Ganoven veranlasst, mit dem Messer auf der Leiche eines getöteten Abtrünnigen zu unterzeichnen, oder eine Frau öffentlich am helllichten Tag, vor aller Augen zu vergewaltigen, oder ein dreijähriges Mädchen zu schänden, oder eine männliche Sojka mit Syphilis anzustecken – mit derselben Expressivität poetisiert der Ganove die Gestalt der Mutter, vergöttert sie, macht sie zum Gegenstand feinster Gefängnislyrik und zwingt alle, ihr aus der Ferne jegliche Achtung zu erweisen.“

Angesichts dieser perversen Ganovenlyrik verurteilt Schalamow das heroisierende Bild der Verbrecherwelt in der russischen Literatur. Hier klingt nochmals die Kritik der russischen Erzählung, die, wie er an Kreminskij schrieb, aufgefrischt werden müsse, an. Ob Dostojewski, Giljarowski, Tschechow oder Tolstoi – sie alle verehrten den Verbrecher als Strafgefangenen als der anthropologisch Andere, der vom „normalen Menschen“ Abweichende in ihren Werken. Ein fataler Fehler, wie Schalamow meint, denn sie ließen sich in leichtsinniger Art und Weise „vom Phosphorglanz der kriminellen Welt hinreißen und betrügen, setzten ihr eine romantische Maske auf und festigten damit beim Leser eine völlig falsche Vorstellung von dieser tückischen, abstoßenden Welt, die nichts Menschliches an sich hat.“

Diese Romantisierung des Verbrechers dekonstruiert Schalamow in seinem vierten Erzählzyklus und entlarvt sie als Schimäre einer Welt, die man sich schrecklicher kaum vorstellen kann – wohlgemerkt nachdem man von der Atem raubenden, sibirischen Eiseskälte der Erzgrubenbäche und den das Bewusstsein raubenden, immergleichen Arbeiten gelesen hat: „Jemanden umbringen, jemandem den Bauch aufschlitzen, die Därme herausholen und mit diesen Därmen einen anderen erwürgen …“ – dies sei Ganovenart und so sehe die Verbrecherwelt aus. Schalamows zentrale Aussage lautet daher, dass diejenigen nichts verstanden haben, die dies heroisieren, sei es auch aus literarischen Gründen.

Eben dies warf er 1972 eben jenem Alexander Solschenizyn vor, dem er zehn Jahre zuvor noch begeistert und dankbar für dessen Iwan Denissowitsch schrieb: „Ich glaube, dass man das Lager nicht verstehen kann ohne die Rolle der Ganoven darin.“ Diese Rolle beschreibt Schalamow in dem vorliegenden Band eindringlich und ermöglicht so, das Lager in seiner brutalen menschlichen Kälte zu begreifen. Die Ganovenwelt ist ein kaum vorstellbarer Abgrund der ohnehin schon grausamen Lagerrealität, meist brutaler und skrupelloser als die Wärter. Niemals wurde dies deutlicher, als in Warlam Schalamows viertem Zyklus seiner Erzählungen aus Kolyma. Um die Fragmente des Schalamow’schen Werkes weiter zu einem Panorama zusammenzusetzen, muss man ihn weiter und weiter und weiter lesen.

 

Thomas Hummitzsch

 

 

Warlam Schalamow: Über Prosa. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Matthes & Seitz Verlag. Berlin 2009. 144 S. 12,80 Euro. ISBN: 3882216424.

 

Warlam Schalamow: Künstler der Schaufel. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Matthes & Seitz Verlag. Berlin 2010. 603 S. 29,90 Euro. ISBN: 3882216026.

 

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