8. Februar 2011

Lidschäfte. Ein Brite blickt auf Deutschland

 

Simon Winder ist „Cheflektor“ des Penguin-Verlags, London. Als solcher betreut er viele angesehene Autoren, darunter Historiker vom Range Ian Kershaws und Adam Toozes. Professionell gründliches Studium historischer Werke und zahlreiche, privatem Interesse geschuldete Reisen liegen Winders Deutschlandbuch zugrunde. Kurz nach Erscheinen des englischen Originals ist bei Rowohlt eine deutsche Übersetzung aufgelegt worden.

 

Deutschland stellt sich, altüberlieferten Stereotypen entsprechend, als Land der Schlösser und Burgen dar, der Kirchsprengel und Duodezfürstentümer, der Butzenscheiben und Reichsdörfer, kurzum als Land der Romantik im guten wie unguten Sinne. Kölner Dom und Neuschwanstein geraten zum focus imaginarius des Deutschtums. Das Ganze des Landes ähnelt einem übergroßen Germanischen Nationalmuseum. Bei so viel Mittelalter- und Frühneuzeitvergötzung spielt Deutschland nach 1933 und 1945 eine untergeordnete Rolle. Da die angelsächsische Populärkultur mit Deutschland kaum anderes als Stahlhelm und schnarrende Oberleutnants verbindet, mag solche Einseitigkeit für angelsächsische Leserschaften ihren guten ‚therapeutischen’ Zweck haben – ob deutsche Leser sich selbst nach Gegenwart und Geschichte in Winders Einlassungen wiedererkennen, steht gleichwohl dahin.

 

Manches in diesem Buch ist schief und disproportioniert wie sein Gegenstand, die gotisch verwinkelten Gassen, bizarren Wunderkammerinventare und lidschäftigen Fachwerkkonstrukte, die Winder so viel Begeisterung und Befremden eingeben:

„Dass Bismarck und Hitler die Katholiken undeutsch, illoyal, unsympathisch und inakzeptabel fanden, war merkwürdig unhistorisch gedacht von zwei Männern, die doch sonst so auf Historisches versessen waren.“ (230) Dergleichen Engführungen zwischen „zwei Männern“, die verschiedener nicht hätten sein können, führen gewiss in die Irre. Dass Hitler selbst der katholischen Kirche angehörte; dem ‚Tag von Potsdam’ der ‚Preußenschlag’ vorangeht, mithin die Entmachtung der sozialdemokratischen preußischen Landesregierung; dass München und Wien, nicht Berlin, als Ursprungsorte des Nationalsozialismus anzusehen sind; dass die gewaltige ideologische Distanz zwischen Bismarck (oder Friedrich II.) und den Nationalsozialisten offen zu Tage liegt; das wilhelminische Deutschland mit zunehmender Nähe zu völkischem und imperialem Gehaben eine Schwundstufe preußischer Eigenart repräsentiert – dies alles gerät aus dem Blick.

 

Ein weiteres Beispiel: Simon Winder widmet sich ausführlich Habsburg und dessen letztem politisch ambitioniertem Vertreter: „Franz Ferdinand arbeitete […] an detaillierten und, wären sie umgesetzt worden, aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgreichen Plänen für die Gründung der Vereinigten Staaten von Groß-Österreich, die mit dem Chaos des Habsburgerreichs aufräumen und mit einer föderalistischen Lösung dem Nationalismus der einzelnen Gruppen entgegenwirken sollten.“ (361) Ist der prospektive Widerstand der Deutschnationalen und mehr noch der Ungarn gegen Franz Ferdinands Reichsreform derart gering zu veranschlagen, dass dieser „aller Wahrscheinlichkeit nach“ triumphales Gelingen vorhergesagt werden kann? Immerhin ist die Emanzipation slawischer Völker der gemeinsame Albtraum der Deutschösterreicher wie Ungarn gewesen und deren letzte verbliebene Gemeinsamkeit. Weiter heißt es: „Dank Franz Josephs unglaublichem Durchhaltevermögen (er saß seit 1848 mehr oder weniger talentlos auf dem Thron!) war Franz Ferdinand eines Tages dazu verdammt, zum Zeitvertreib nach Sarajevo zu fahren, der Hauptstadt der erst kurz zuvor von Österreich annektierten osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina.“ (Ebd.) Gewiss ist dies launig und lustig gesagt und Winder tut gut daran, Franz Josephs umfassendes Versagen entgegen allen gut gemeinten Klischees beim hässlichen Namen zu nennen. Wenn freilich von „Zeitvertreib“ die Rede geht, wo harte Politik und Propaganda stattfindet – Franz Ferdinand sucht absichtsvoll die Konfrontation mit dem serbischen Nationalismus –, wird der geschichtliche Sachverhalt mutwillig entstellt.

 

Wohlgemerkt: Nicht eben selten werden erhellende Schneisen ins Dickicht historischer Wirrsal geschlagen. Dies kann höchst beiläufig geschehen, wenn Winder Österreich im 19. Jahrhundert implizit mit Russland vergleicht: Beide Staaten sind derart weit ausgedehnt, dass jeglicher Angriff, durch Napoleon oder andere, in der Tiefe des Raums verpuffen muss. Diese Einschätzung ist gewiss übertrieben – mehrfach musste Habsburg vor Napoleon die Waffen strecken –, ein Funken Wahrheit ist dennoch enthalten, denn Österreich ist im 19. Jahrhundert bei weitem das ausgedehnteste Staatsgebilde Europas und anders als Preußen ist es unter Napoleons Joch nie unmittelbar von Auslöschung bedroht gewesen.

 

Überhaupt Österreich: Dass ein Geschichts- und Reisebuch, das sich ausdrücklich Deutschland widmet, so hartnäckig auf österreichische Belange eingeht, mag auf den ersten Blick befremden. Allein Simon Winder ist es ausdrücklich um Deutschland vor 1933 zu tun, zum größeren Teil um Heiliges Römisches Reich und Deutschen Bund. So bleibt nicht aus, dass die Kaiser, Habsburg mithin und dessen österreichische Stammlande, eine wichtige Rolle spielen – ohne freilich dass Preußen und norddeutsche Fürstentümer, zumal das mit England engstens verbundene Hannover, missachtet würden.

 

Für seine Weigerung, die Nazizeit ausführlich darzustellen, ist Winder vielfach kritisiert worden, wahrscheinlich zu Unrecht – dies umso mehr, als der Nationalsozialismus samt seiner Vorgeschichte immer wieder in Winders Darlegungen hineinspielt:

 

„Ich wollte eben gerade sagen, dass es eine reichhaltige, komplexe deutsche Geschichte gibt, die nicht das Dritte Reich ist. […] über das Dritte Reich selbst und über das Nachkriegsdeutschland zu schreiben hätte das Buch völlig gesprengt. […] Der britische Leser sollte sich fragen: Warum interessiere ich mich eigentlich nur für Kultur, wenn im betreffenden Land dauernd die Sonne scheint? Wenn sie sich wirklich für Kultur interessieren würden, dann würden sie genauso oft ins Schwäbische reisen wie in die Toskana.”(1)

 

Nun ist Winder nicht frei von solchen Eigenarten, die Deutschen oder anderen Europäern typisch britisch scheinen mögen: Dies betrifft seine Faszination mit dem bizarren Detail und skurrilen Persönlichkeiten – weit Wesentlicheres zwischen Beethoven und Kant wird marginalisiert –, kurzum: den Spleen, die soignierte Extravaganz. Auch pflegt er, wie missgünstige Leser vermerken, einen in der Tendenz kolonialistischen Blick, dem fremde Länder – sei es Deutschland oder Indien – zum Kuriositätenkabinett geraten, zur viel bestaunten Wunderkammer, die letztinstanzlich am global gewordenen angelsächsischen Maßstab zu messen ist:

 

„Von Tacitus und dem Germanien der „finsteren Wälder” über das von ihm mit besonderem Fleiß beackerte Mittelalter und den Dreißigjährigen Krieg schlägt er einen kühnen Bogen zur Kleinstaaterei des 18. und den Vereinigungsversuchen des 19. Jahrhunderts und schließt mit dem Ende der Weimarer Republik. Das Ergebnis ist ein assoziativer Flickenteppich aus Anekdoten über die deutschen Kaiser, Betrachtungen über die Ästhetik deutscher Parks und Wunderkammern, bewundernde Berichte über Alexander von Humboldt und eher abschätzige über Wilhelm II.“(2)

 

Zur viel gescholtenen Übersetzung, die, offenbar auf Wunsch des Verlags, manche Sottisen und Einseitigkeiten der englischen Fassung eliminiert und einer Adaption und freien Anverwandlung des Originals entspricht, ist festzustellen, dass Sigrid Ruschmeier sich durchaus wacker schlägt und lesbare, idiomatische Prosa verfertigt. Der kesse, launige Ton Simon Winders wird im Deutschen effektsicher nachgebildet – kein geringes Verdienst. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass auch der deutsche Leser einiges Vergnügen an Germany, oh, Germany haben wird und manches lernen kann – über Deutschland und das Deutschlandbild der Briten. Ernstlich geschichtsinteressierten Lesern bleibt, wo sie übers Besondere des Landes, diesseits und jenseits der Nazizeit, informiert werden möchten, Herfried Münklers Die Deutschen und ihre Mythen (Berlin 2009) anempfohlen.

 

Simon Winder stellt das Münchner Hofbräuhaus ans Ende seiner 400 Seiten starken Deutschland-Erkundungen. Die Schlussbemerkung schwankt genialisch zwischen Einsicht und Klischee:

 

„Im Münchner Hofbräuhaus, dem zeppelingroßen Schuppen überbordender Geselligkeit kann man sich der Feuerprobe unterziehen, wie viel Deutschheit man verträgt; wer in diesem speziellen Zivilisationsmodell versagt, wird schnell aussortiert. […] Die Hunderte meist männlichen Trinker werden von den Betreibern mittels klugen Einsatzes von Trachten, Brüsten und Humba-täterä-Kapelle in feuerrotgesichtige hysterische Ausgelassenheit getrieben. Später am Abend steigen die lautstarken Gespräche zu einem einzigen permanenten Dröhnen an, untermalt von zerdeppernden Bierkrügen, dem Krachen fallender Tabletts und Lachen und Gekreische, wenn die Gäste rücklings von den Bänken plumpsen.“ (433)

 

Vorderhand überraschende Folgerung:

 

„Mit München komme ich nicht zurecht. Manche Orte sind für mich für immer vom Nationalsozialismus ruiniert; und dazu gehört vor allem München. Hätte das ‚Dritte Reich’ überlebt, wäre die Stadt ein Art modernes Bethlehem geworden […]. Busladungen voller Menschen würden die Orte besuchen, die Hitler wegen ihrer hohen Symbolkraft schuf: […]. Unter diesen heiligen Stätten nähme das Hofbräuhaus einen Ehrenplatz ein. […] Viel von Nazi-München ist zerstört worden […]. Das Hofbräuhaus wurde auch zerstört, doch im Gegensatz zu den anderen Bauten wurde es wieder aufgebaut und bleibt eine leidige Erinnerung an die Kultur, die einen Hitler hervorbrachte.“ (433 f.)

 

 

Daniel Krause

 

Simon Winder: Germany, oh, Germany. Ein eigensinniges Geschichtsbuch. Deutsch von Sigrid Ruschmeier. Reinbek 2010 (Rowohlt).

 

 

(1) Simon Winder im Gespräch mit Alexander Menden. Zitiert nach: www.buecher.de/shop/buecher/germany-oh-germany/winder-simon/products_products/content/prod_id/27948809/

 

(2) Ebd.

 

 

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