29. Januar 2011

Das Drama der räumlichen Orientierung

 

In „Sie befinden sich hier!“ wird aus extrem unterschiedlichen Perspektiven versucht, auf das alltägliche Drama der Orientierung zu zeigen.

 

Wie orientieren sich Menschen, in einer Stadt, in einer Wohnung, in der ihnen vertrauten Umgebung, wenn sie nicht ständig eine Karte oder ein digitales Navigationssystem dabei haben? Wie funktioniert - unbewusst - die Lokalisierung des Selbst, wo man steht, wenn keine Karte und kein Plan da ist, der einem mit einem roten Punkt zeigt, wo man sich befindet, wo man sich zu befinden hat? Der Ausgangspunkt des schmalen Buchs „Sie befinden sich hier!“, herausgegeben von dem Künstler Ulrich Ludewig, ist die Entselbstverständlichung des Vorschreibenden von Plänen und Landkarten, wie man sie in Parks oder auf Autobahnraststätten findet und die einem mit einem roten Punkt mitteilen, wo man sich jetzt befindet, wenn man ordnungsgemäß auf den Plan schaut.

 

Die AutorInnen in „Sie befinden sich hier!“, Ulrich Ludewig, Eva-Maria Kaufmann, Nils Plath, Norbert Nowotsch, Hans-Georg Kastilan und Rainer Weißenborn, nähern sich dem Thema aus extrem unterschiedlichen Perspektiven, in ihren eigenen Schreibweisen, vom künstlerischen Beitrag mit Bildern bis zum literaturwissenschaftlichen Essay über das Konzept des Standortes in Texten Alexander Kluges. So man nicht bereits mit den eigenen Schreibweisen, der Arbeit und den Themen dieser AutorInnen vertraut ist, stellt sich beim Lesen anfangs merkwürdige Irritation ein, da man nicht richtig sagen, einordnen und beschreiben kann, womit man es zu tun hat. Wovon handelt diese Theorie und Kunst zwischen zwei Buchdeckeln, wenn es eine ist? Ist es Kunst? Ist es politische Theorie? Ist es Erdkunde? Ist es Geografietheorie? Ist es eine Mischung aus unterschiedlichen Disziplinen, die in ihrem eigenen Spezialsound eine neue, akademische Disziplin hervorbringt? Ist es einfach die Verweigerung von Disziplin und Disziplinen?

 

Der Herausgeber Ulrich Ludewig beschreibt im Vorwort „Roter Punkt und weißer Fleck“, wie „Sie befinden sich hier!“ konzipiert ist. Er verweist auf die Tatsache, dass der rote Punkt - „zumindest auf der Landkarte“ - der natürliche Feind des weißen Flecks sei. Ludewig: „Unserer alltäglichen Orientierung in der Stadt, auf dem Land und in Gebäuden hat die weltumspannende Kartografierung allerdings wenig geholfen. Ohne elektronische Hilfsmittel, sprich ‚Navi‘, orientieren wir uns immer noch sehr mühsam mit Hilfe eines roten Punktes auf einem mit grafischen Symbolen bedeckten Plan, der allen Verirrten und Blindgängern ‚Sie befinden sich hier!‘ zuruft, womit dem Suchenden aber durchaus noch nicht geholfen ist.“ Es geht in den folgenden Beiträgen jedoch nicht um theoretische Auseinandersetzungen mit dem Gegensatz von rotem Punkt und weißem Fleck. Die gesammelten Texte sind verschiedene Annäherungen an den Diskurs, wie räumliche Orientierungsvorgaben markiert und dekonstruiert werden könnten. Der rote Punkt, welcher auf den Bildern in Ulrich Ludewigs Fotoserie „48 Standpunkte“, 2000-2010, nicht nur rot, hellrot, blutrot, sondern auch orange, gelb, schwarz, hellrosa, grün oder dunkelblau sein kann, ist nur ein prominentes Beispiel für die Vorgabe, wie (räumliche) Orientierung in dem Diskurs vorgeschrieben wird.

 

Es ist schwierig, die Beiträge in „Sie befinden sich hier!“ klar mit einem Konzept zusammenzufassen. Klar scheint lediglich, dass es um den Diskurs der räumlichen Orientierung geht. Ulrich Ludewig produziert eine farbenfrohe Fotoserie zum Thema, Eva-Maria Kaufmann führt in „Standpunkte und Blickpunkte“ essayistisch durch die Geschichte der Gartenkunst, Nils Plaths „Beschilderung von Landschaften“ zeigt, welche Funktion Standorte und Landkarten in Texten von Alexander Kluge haben könnten, in Norbert Nowotschs „Das Hier ist auch nicht mehr dort wo es früher war“ geht es aus einer komplexen philosophischen Perspektive um eine eigene Geschichte des Verhältnisses zum Diskurs der Orientierung, der Künstler Hans-Georg Kastilan liefert ein paar gezeichnete Bilder zum Thema, welche datiert sind und, wie auf Landkarten, Städte wie Berlin, Wien, Moskau und Tokyo bezeichnen, und Rainer Weißenborn erklärt diesen künstlerischen Text mit „Weltbild und Ortsbestimmung“ in einem dreiseitigen Kommentar.

 

Man könnte sagen, „Sie befinden sich hier!“ inszeniert das alltägliche, bekannte Drama der Orientierung in künstlerischer und theoretischer Weise. Von einfach bis schwierig und sehr komplex. Dass es diese unbewussten Prozesse als Drama alltäglich gibt, ohne dass es gewöhnlich dafür eine extra Bühne gibt, darauf zeigt dieses Buch auf so merkwürdige, vielseitige Weise. Es regt dazu an, die unbewusst, doch machtvoll laufenden Vorgaben des Dramas der räumlichen Orientierung infrage zu stellen.

 

Christopher Strunz

 

Ulrich Ludewig (Hg.): Sie befinden sich hier! mit Beiträgen von Eva Maria Kaufmann, Norbert Nowotsch, Nils Plath, Rainer Weißenborn. Daedalus Verlag: Münster 2010. 19,95 €

 

 

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