26. Januar 2011

Cape au pire

 

Henning Ottmanns Geschichte des politischen Denkens, die demnächst abgeschlossen werden wird mit dem zweiten Teilband zum 20. Jahrhundert, ist ein umfassendes Projekt. Und zwar im doppelten zeitlichen Sinn: Bereits 2001 erschien Band I (zwei Teilbände) mit dem Titel Die Griechen. Es folgten Bände zu den Römern und zum Mittelalter sowie drei Teilbände zur Neuzeit. Jetzt ist der erste Teilband zum 20. Jahrhundert erschienen, der den Untertitel trägt: Der Totalitarismus und seine Überwindung.

 

Schaut man sich das Inhaltsverzeichnis an, wird schnell klar, dass es sich in der Tat nicht um eine Publikation zur Untersuchung der politischen Systeme oder gesellschaftlicher Entwicklungen handelt, sondern dass Ottmann in erster Linie Textlektüre betreibt. Wie um den Leser auf die zugleich großen wie traurigen Kapitel totalitärer Herrschaft einzustimmen, beginnt der Verfasser mit der Präsentation der wichtigsten Dystopien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also z.B. H.G. Wells’ The War of the Worlds aus dem Jahr 1898, Karel Čapeks Krakatit (1922), Jewgeni Samjatins Wir (My, 1920), Aldous Huxleys Brave New World (1932) und George Orwells Nineteen-Eighty-Four (1949). Der Leser dieses Teilbandes wird entscheiden, ob die tatsächlichen politischen Gewaltherrschaften oder auch nur ihre Theorien und Konzepte hinter den imaginären Schrecken dieser dystopischen Autoren zurückgeblieben sind oder nicht. Auf diesen literarischen Auftakt folgt Ottmanns Lektüre der wichtigsten Texte Max Webers. Dessen Diagnose der Moderne ist alles andere als beruhigend: „Sie zeigt die ständig expandierende, den Menschen in „ein stahlhartes Gehäuse“ sperrende Welt der Zweckrationalität auf der einen, die zugleich und korrespondierend wachsende Welt subjektiver Irrationalität und willkürlicher Dezision auf der anderen Seite.“

 

Schraubt man die verbalen Radikalismen dieses Zitats ein wenig zurück, zeigt sich eine Gesellschaftskritik, die ca. hundert Jahre früher ein Friedrich Schiller in seinen Ästhetischen Briefen vorlegte. Schiller allerdings konnte noch auf so etwas wie einen „ästhetischen Staat“ hoffen. Bei Max Weber überwiegt Desillusion und Ratlosigkeit, oder, positiv gewendet, ein heroischer Akt: das „Schicksal der Zeit… männlich ertragen“. Darum ging es im Russland der 10er Jahre und in der beginnenden UdSSR natürlich ganz und gar nicht. Max Weber war kein Denker der Revolution. Ein solcher musste erst aus der Zukunft zurückkehren und die entsprechenden Anweisungen geben, unter dem Deckmantel einer „Diktatur des Proletariats“. Ottmann bringt den theoretischen Konzepten Lenins und Stalins keine Sympathie entgegen. Er weist überzeugend nach, dass Politik und Verbrechen keinen Betriebsunfall darstellen. Gewalt und Terror sind schon den maßgeblichen Texten inhärent. Interessanterweise kehrt Ottmann im Kapitel zu Hitler und zum Nationalsozialismus die Perspektive nicht wie Sebastian Haffner in seinen Anmerkungen zu Hitler um: Dieser hatte sich probeweise gefragt, was gewesen wäre, wenn Hitler 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, nach Jahren durchaus gesellschaftlicher Erfolge und auch internationaler Anerkennung. Hätte man ihm seinen permanent bekundeten Pazifismus nicht abgenommen? Und hätte man Mein Kampf nicht als nicht ernst zu nehmende Fantasterei auffassen dürfen? Ottmann: „Die rassistische Politik steigerte sich in immer radikalere Vorhaben und Aktionen. Aber gewiss war die Ideologie auch so etwas wie ein Programm, ein Paradebeispiel dafür, dass nicht erst der Täter, sondern schon der Denker das Messer in der Hand haben kann.“

 

Die Wirkung Maos im Westen bleibt für Ottmann eher rätselhaft: „Warhol porträtiert Mao als eine Pop-Ikone. Hatte man von den Verbrechen nichts gewusst?“ Vermutlich wollte man davon nichts wissen. Schöner Fall der Wiederkehr des Verdrängten. Diesen Teilband beschließt ein Kapitel zu dem, was der Verfasser als „Neoklassische politische Philosophie“ bezeichnet. Hierzu zählen Denker wie Hannah Arendt, Eric Voegelin und Leo Strauss. Letzterer ist wohl der interessanteste, sicher aber auch der problematischste dieser Abteilung politischen Denkens. Schon die Unterteilung in esoterische und exoterische Lehre, die Leo Strauss vollzieht, lässt nichts Gutes ahnen. Die Anstecknadelverteiler der „happy few“, zu denen auch Stendhal und Guy Debord gehörten, scheinen in erster Linie an Haltungen und Provenienzen interessiert zu sein. Hier nimmt politisches Denken eine bedenkliche snobistische Wende. Auch wenn die Überwindungen, von denen der Untertitel gesprochen hat, eher unterbelichtet bleiben, ist dieser Teilband ein gutes Kompendium in Sachen undogmatischer Ideologiekritik.

 

Der das Gesamtprojekt abschließende Teilband wird u.a. den frühen Feminismus „mit den aktuellen Varianten der Theorie“ behandeln sowie die Kritische Theorie, die politische Philosophie von Jürgen Habermas und das politische Denken der Postmoderne.

 

Dieter Wenk (1-11)

 

Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Band 4: Das 20. Jahrhundert. Teilband 1: Der Totalitarismus und seine Überwindung, Stuttgart, Weimar 2010 (Metzler)

 

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