23. Januar 2011

Antik-Epos


Seit Blutch 2009 den wichtigsten europäischen Comicpreis gewann, entdeckt Deutschland den französischen Comickünstler. Nun kann man in seinem tiefgründigen Frühwerk „Peplum“ den Ursprüngen seines Schaffens nachspüren.

 

Kennen Sie Christian Hincker? Nie gehört? Macht nichts. Selbst in seiner Heimat Frankreich kennt kaum jemand einen Mann mit diesem Namen. Fragen Sie hingegen nach einem gewissen Blutch, werden Sie kaum einen Franzosen finden, der nicht ins Schwärmen gerät. Der Mittvierziger gehört neben Comiczeichnern wie David B., Manu Larcenet, Joann Sfar, Lewis Trondheim, Carlos Gimenez, Baru, Winshluss und einigen anderen in die Reihe der international erfolgreichen Comicautoren, deren Ursprünge in der Heimat der experimentierfreudigen franko-belgisch-kanadischen Comicschule zu finden sind.

Seitdem Blutch im Januar 2009 den wichtigsten europäischen Comicpreis, den Grand Prix de la Ville d’Angoulême, gewann, wird er auch in Deutschland entdeckt. Bei Reprodukt erschien umgehend nach seiner Krönung der autobiografische Doppelband „Der kleine Christian“, kurz darauf im avant-verlag „Blotch – Der König von Paris“. Das Feuilleton frohlockte. Im Berliner Tagesspiegel lobte man seinen Erzählstil, bei dem es kaum möglich sei, „sich dem Charme dieser Authentizität zu entziehen“. Die NZZ pries seine Vielseitigkeit und schwärmte: „In allem, was Blutch macht, kommt eine starke und eigenwillige Autorenpersönlichkeit zum Ausdruck.“

Nun erscheint in Deutschland im kleinen, aber renommierten avant-verlag des leidenschaftlichen Streiters für anspruchsvolle und hochwertige grafische Literatur Johann Ulrich ein weiteres Werk des Franzosen, sein spätrömisches Epos „Peplum“. Dieses Frühwerk erinnert in seiner Erzählung ebenso an Homers Odyssee wie an Vergils Aeneis. Mit dem römischen Dichter teilt der Held der Erzählung sogar den Vornamen.

„Peplum“ ist die Geschichte eines jungen Römers, der den vertriebenen römischen Ritter Publius Cimber mit zwei anderen Getreuen auf seiner Flucht aus dem Imperium begleitet. Sie spielt 44 v. C., wie ein fünfseitiger Exkurs in den römischen Senat, der mit der Ermordung Cäsars durch Brutus endet, unzweifelhaft deutlich macht.

Cimber und seine Begleiter, an den Rand des Imperiums vertrieben, finden eine in einem Eisblock gefangene Frau, „eine Göttin unter den Gottheiten“, die „einer Helena oder Venus ebenbürtig“ ist. Wie die Sirenen die Seefahrer zieht die unterkühlte Schöne die Männer magisch in ihren Bann und sie beschließen, den Eiskubus mitzunehmen. Über ein Jahr irren die Männer durch die unbekannten Ausläufer des römischen Reichs, den gigantischen Eisblock hinter sich herziehend. Nach und nach erkranken sie an einem seltsamen Hautausschlag und das ziellose Herumirren treibt die Männer an den Rand des Wahnsinns. Als einer der Männer an der rätselhafte Krankheit stirbt, kommt es zum Streit, bei dem der römische Edelmann und sein zweiter Vasall umkommen. Der einzige Überlebende, der den Namen Publius Cimber annimmt, hat nun die eisige Schöne für sich.

Bereits diese in den ersten zwei von elf Kapiteln erzählte Geschichte vereint in sich die gesamte Tradition des griechisch-römischen Epos. Die großen Themen Liebe und Verführung, Krieg und Gewalt, Macht und Ohnmacht, Verrat und Hinterlist sowie der Aufstieg eines Helden wie ein Phönix aus der Asche sind hier eingeflochten. Dabei verdichtet Blutch die zuweilen langatmige Erzählweise der griechisch-römischen Klassiker in seinen grob-radikalen Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Die historisch-chronologische Erzählung en détail ersetzt er mit der episodenhaften Darstellung der die Heldenbiografie prägenden Erlebnisse. Wer bei dieser Erzählweise wiederholt an Homers Odyssee denkt, irrt keineswegs.

Blutch nimmt den Leser mit auf die Abenteuerreise seines manisch getriebenen Helden. Die Episoden sind dabei so unterschiedlich, wie sie nur sein können, einzig zusammengehalten von der wahnhaften Liebe des Abenteurers zu seiner tiefgefrorenen Schönen, die ihm bei der erstbesten Gelegenheit geraubt wird. Ihr jagt er nach wie dem berühmt-berüchtigten Goldenen Vlies. Wie Blutch diese Jagd, die auch eine Suche nach der eigenen Identität ist – nicht umsonst hat der Held einen falschen Namen angenommen – in Szene gesetzt hat, spricht auch für seine Neigung, seine Helden psychologisch zu erkunden. Dies vollführt er nicht direkt mittels Text und Bild, sondern indirekt über das Schicksal, in das sich seine Personen fügen müssen.

Bei seinem Streifzug durch ein sich im permanenten Kriegszustand befindendes Imperium begegnet der falsche Publius Cimber einem orgiastischen Volk von Nymphen, denen an der Stelle der Hände nur Armstümpfe geblieben sind und die ihn bis in seine Träume verfolgen. Er zieht in ruinengleiche Städte ein, vor deren Toren Krieger und Verbrecher gekreuzigt worden sind. Und liest einen Jüngling auf, der es zwar an Schönheit mit der Frau im Eis aufnehmen kann und ihn lange Zeit begleitet, aber später für die Wiedereroberung der eisigen Schönen herhalten muss.

Nach jahrelanger Odyssee durch die Schatzkammern des Römischen Reiches beginnt der Eisblock, nun wieder im Besitz des heldenhaften Abenteurers, zu schmelzen. Doch mit dem Auftauen wachsen wiederum die Begehrlichkeiten anderer, diesen seltsamen Schatz für sich zu erobern. Die unterkühlte Göttin wird zur Legende, ähnlich wie das sagenumwobene Vlies. Gegen Ende der Erzählung wird der Held in immer absurdere Episoden verstrickt, die zuweilen bildtextlich nur schwer nachzuvollziehen sind. Seine eisige Liebe entpuppt sich im aufgetauten Zustand schließlich als Kadaver und es wird deutlich, was Blutch mit dieser antiken Geschichte eigentlich erzählen will: Die Geschichte einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten Liebe.

Die zahlreichen Anspielungen auf die antiken Epen dienen lediglich der Schaffung eines Dekors, welches dem frühen Blutch einen möglichst großen Raum zum Experimentieren geben konnte. Nur so ist dieser episodisch-grafische Stilmix aus blutrünstigen Gewaltszenen, harmonischen Landschaftsaufnahmen, museal-theatralen Dekors, antiken Stadtansichten, virtuosen Bewegungsstudien, morbid-geisterhaften Menschendarstellungen und poetisch-atmosphärischen Bildmetaphern, zu verstehen. Die Grenzen des Figurativen überschreitet Blutch dabei mehr als einmal. Dass die Episoden nicht immer zu einer nachvollziehbaren Erzählung verbunden sind, gerät angesichts der Nähe zum griechischen Epos in den Hintergrund. Als Leser fügt die Anekdoten assoziativ aneinander, schließlich fühlt man sich ohnehin wie bei der Lektüre eines Reiseromans, in dem der Held von einem Abenteuer ins nächste geworfen wird.

Die eigenwillige grafische Ausführung der Zeichnungen unterstreicht die These des Experimentierfelds. Blutchs Bildsprache schwankt zwischen der detaillierten Ausgestaltung der Szenerie mit verstärktem Fokus auf den Vordergrund (wie auf dem farbig gestalteten Titel des Bandes zu sehen), groben Schraffuren – insbesondere bei Panoramen –, bis hin zu kaum wieder erkennbarem Gekritzel. Der Bildhintergrund wird zum atmosphärischen Instrument, ist entweder in Schwarz getaucht oder nahezu unberührt Weiß. Blutchs bedeutungsschwere Bilder sind Signifikanten für das, was sich der Leser unter Momentaufnahmen eines antiken Epos’ vorstellt. Die rücksichtslose, konturenreiche  Ausführung seiner Zeichnungen, der markante Strich ist Beleg für die Energie, die in seinen Text-Bild-Erzählungen steckt.

Dass er auch anders kann, sowohl grafisch als auch erzähldynamisch, konnten die deutschsprachigen Leser bereits in den eingangs erwähnten Werken erfahren. Ein Höhepunkt seines Schaffens stellt sicherlich auch sein surrealistisches Werk „Vitesse Moderne“ dar, welches noch auf einen deutschen Verleger wartet. Man kann wohl davon ausgehen, dass die einschlägig Verdächtigen, d. h. der avant-verlag, die Edition Moderne oder Reprodukt dieses Rennen freundschaftlich unter sich ausmachen. Als Liebhaber grafischer Literatur kann man sich schon jetzt darauf freuen. Bis dahin kann die deutsche Leserschaft den Franzosen mit seinem Frühwerk „Peplum“ einmal mehr als außergewöhnlichen Erzähler und kongenialen Zeichner entdecken, der sich immer wieder neu erfindet und die Grenzen des Machbaren auslotet. Bei der Lektüre wird jeder Leser seinen eigenen Zugang zu diesem assoziativ-imaginativen Werk, welches seine Wurzeln tief in die antiken Epen der griechisch-römischen Tradition geschlagen hat, finden müssen. Das ist durchaus eine Herausforderung. Allerdings eine, deren Bewältigung äußerst lohnenswert ist.

 

Thomas Hummitzsch

 

Johann Ulrich (Hrsg.), Blutch (Autor + Zeichner): Peplum. Aus dem Französischen von Sabina Mlodzianowski. avant-verlag. Berlin 2010. 109 Seiten. 25,- Euro. ISBN: 2929080446

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

amazon