14. Januar 2011

Der Riskante

 

Unter den deutschen Intellektuellen ersten Ranges, die wenigstens zeitweilig mit dem Nationalsozialismus verbunden waren, ragt Carl Schmitt in mehrerlei Hinsicht heraus. Anders als Heidegger und Benn kam Schmitt, ohne ‚Führer des Führers’ zu sein, wie auch er es erträumte, dem Zentrum der Macht mindestens phasenweise recht nahe. Anders als Furtwängler oder Jannings war Schmitt kein bloßes kulturpolitisches Aushängeschild, gewiss auch kein Hofnarr, wie Gründgens es war – gemäß dem Bild, dass Klaus Mann und István Szabo von „Mephisto“ gezeichnet haben. Anders schließlich als Bäumler ist Schmitt bis heute wirksam als – neben Hans Kelsen – einflussreichster Rechtsphilosoph deutscher Sprache. Nicht nur, dass manche Ideen und Prägungen Schmitts – betreffend Souveränität und Ausnahmezustand, Freund und Feind, Legitimität und Legalität oder Politische Theologie – Eingang in die akademische Umgangssprache gefunden haben. Vielmehr ist die kuriose Situation entstanden, dass Schmitt, der immer schon von ‚rechts’ in Anspruch genommen wurde, zum Stichwortgeber der Linken, zumal Giorgio Agambens, geraten ist. Am Erstaunlichsten: Teils sind es dieselben Ideen, die rechte wie linke Schmitt-Leser begeistern. Carl Schmitt wird häufig dort in Anspruch genommen, wo – von links oder rechts – der liberale Staat nach heutigem europäischem Muster unter Beschuss gerät. Darüber hinaus stellt er treffliche Theorieangebote zur Glorifizierung des Katholizismus bereit, mithin für intellektuell freie, von vatikanischem Stallgeruch unbelastete Apologetik. (Carl Schmitt war, kurios genug, wegen Ehehändeln exkommuniziert worden.) In Zeiten, da Erzliberale wie Jürgen Habermas religiöse Ressourcen für gesellschaftlich unverzichtbar erachten, scheint Schmitt zur inspirierenden Lektüre zu geraten – wenngleich niemand rhetorisch gut daran tut, sich offen zu Schmitt’schem Gedankengut zu bekennen: Das Odium des Nazi-Bekenners und Antisemiten haftet Carl Schmitt – mehr noch als Heidegger und Benn – bis heute an. Auch besteht ein „Feuilleton-Katholizismus“ vorkonziliarer Tendenz, den Sigrid Löffler gelegentlich der Büchner-Preisverleihung an Martin Mosebach spitzzüngig gegeißelt hat. Schließlich sind Wirkungen Schmitts in die bundesrepublikanische Nachkriegszeit, ihre Geistes- und Rechtsgeschichte zu konstatieren: Johannes Gross, Berater Ludwig Erhardts, später FAZ und ‚Capital’ verbunden, als (brillanter) Aphoristiker und Fernsehmoderator tätig und einer der klügsten Köpfe der Rechten, zählte zum Kreis der Adoranten. Am meisten Einfluss unter den Schülern sollte Ernst-Wolfgang Böckenförde entfalten, der seinem Mentor in kritischer Freundschaft verbunden war und als Verfassungsrichter an wichtigen Urteilen mitwirkte. Das sogenannte Böckenförde-Diktum, wonach der liberale Staat auf weltanschaulichen Grundlagen ruht, die er selbst nicht gewährleisten kann, folglich auf starke zivilgesellschaftliche Weltanschauungsgemeinschaften verwiesen bleibt, erinnert an eine der elementarsten Intuitionen Carl Schmitts – diese, dass alle politischen und rechtlichen Ordnungen in metaphysischen, letztlich theologischen Grundannahmen wurzeln und von diesen her revidiert werden können. Legalität und Legitimität, 1932, während des Papen-Regimes niedergelegt, nimmt jenes Diktum, einen Grundgedanken des liberalen bundesrepublikanischen Konservatismus, sinnähnlich vorweg. In Mehrings Paraphrase: „Der Gesetzgebungsstaat kann das tragende Ethos nicht garantieren, das er voraussetzt.“ (285)

Für biografische Zwecke eignet sich Schmitt, die „Shakespeare’sche Gestalt“ – so der Umschlagtext –, weil bislang keine Biografie auf aktuellem Forschungsstand vorlag. Auch fällt ins Gewicht, dass Schmitt – darin Ernst Jünger ähnlich – ein eher biblisches denn Shakespearisches Alter von 96 Jahren erreichte: Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist Schmitt ein erwachsener Mann mit abgeschlossener Promotion. Er zählt zu den wenigen, die sich dem „Augusterlebnis“ nationaler Erhebung gegenüber resistent zeigen. Der Tenor seiner Tagebuchnotizen: preußenfeindlich, frankreichfreundlich, mehr auf Frieden als Sieg gerichtet. Während des Kriegs – dies wird bei Mehring überzeugend verdeutlicht – findet Schmitt jedoch sein ‚Lebensthema’: Die rechtliche Stellung des „Belagerungs-“ bzw. „Ausnahmezustands“. Vieles, was Schmitt in späteren, zumal den dreißiger Jahren veröffentlicht und verlautbart, ist staatsrechtlichen Ausnahmesituationen, besonders aber der Frage gewidmet, ob und in welchem Maße Gewaltenteilung suspendiert und die Zuständigkeit der Exekutive ausgedehnt werden darf. Hierin liegt Schmitts Aktualität gerade fürs linke Denken unserer Zeit: Wenn menschheitsbedrohende ökologische Katastrophen auf liberalem Wege nicht bewältigbar scheinen, liberale Staaten als Marionetten des ‚Kapitals’ wahrgenommen werden, kommt die Schmitt’sche Staatsrechtslehre, die manche Selbstverständlichkeit der aufgeklärten Welt infrage stellt, zumindest in Sicht.

Vom ‚Kronjuristen’ der Papen-Hindenburg’schen Präsidialdiktatur wandelt Schmitt sich flugs zum Apologeten des Nationalsozialismus. Mehring stellt über 40 Erklärungsgründe zusammen, die Schmitts Bereitschaft, sich den Nazis anzudienen, durchschaubar machen können. So hat Carl Schmitt rückblickend konstatiert, er sei „ein intellektueller Abenteurer“ – mit Mehring: ein „Picaro“ – und voller Neugier. (312)

„Schmitt erkannte den Nationalsozialismus sofort als ‚Revolution’ [...]. Schmitt stellte seine Mitarbeit ins Licht einer Gesamtentscheidung und Gesamtverantwortung, machte sich keine Illusionen darüber, dass er den Rubikon des bürgerlichen Rechtsstaats überschritten hatte [...]. Von Anfang an nahm er den Nationalsozialismus auch als antisemitischen Staat wahr.“ (313) Konsequent verweigert er jüdischen Kollegen die Unterstützung. Den Höhepunkt seines Einflusses hat Schmitt jedoch bald überschritten: Die Erfahrungen des Reichsgerichts-Prozesses um den ‚Preußenschlag’ von 1932 prädestinieren ihn, das ‚Reichsstatthalter-Gesetz auszuarbeiten, mit dem die föderalistische Ordnung zerschlagen, die ‚Gleichschaltung’ der Länder vollzogen wird. In den folgenden Jahren übt Schmitt, ‚Preußischer Staatsrat’ und Professor der Berliner Universität, einigen Einfluss auf die Umbildung der berufsständischen juristischen Ordnung im nationalsozialistischen Deutschland aus. Sein Einfluss auf die Gesetzgebung bleibt freilich gering. Dennoch setzt Schmitt seine publizistische Tätigkeit fort, nun beispielsweise im Völkischen Beobachter. „Er preist den ‚Geist’ der deutschen Revolution und ‚Das gute Recht der deutschen Revolution’, feiert den Übergang zum Ein-Parteien-Staat’ als Schritt zum ‚Staat des 20. Jahrhunderts’ [...] und rechtfertigt die nationalsozialistischen Anfänge durch die ‚Reichsreform’ in der Kontinuität des Preußenschlags. [...] Von kaum überbietbarer Polemik ist insbesondere der Artikel Die deutschen Intellektuellen im Westdeutschen Beobachter vom 31. Mai 1933 [...]. Die deutschen Intellektuellen: ‚Zum deutschen Volk haben sie niemals gehört. Aber auch nicht zum deutschen Geist. [...] Aus Deutschland sind sie ausgespien für alle Zeiten.’ Schmitt bejaht die Bücherverbrennung, [...] erwägt den Entzug der Staatsangehörigkeit, deutet weitere Maßnahmen an. Er erwähnt namentlich Albert Einstein, der – neben Thomas Mann – ganz oben auf den Ausbürgerungslisten der Nazis stand.“ (324) Was Schmitts Gebaren im nationalsozialistischen Staat des Jahres 1933 betrifft, mehr durch Ohnmacht als reale Wirkungsmöglichkeiten bestimmt, sowie den folgenden Sturz in der nationalsozialistischen Hierarchie, reicht eine bloße Nacherzählung der wechselseitigen Intrigen und „Ressourcenkämpfe“, des Klimas von Willkür und Denunziation (339f, 378ff), vollständig aus, um ein Shakespeare’sches Königsdrama der finstersten Sorte zu evozieren. „Er ahnt nicht, dass er seine Rolle Ende 1933 schon fast ausgespielt hat und bald nicht mehr gebraucht wird. Nachträglich betrachtet hatte er für den Nationalsozialismus eine Übergangsrolle ideologischer Werbung und ‚Gleichschaltung’ der Rechtswissenschaft und Justiz.“ (340f)

Ausführlich geht Mehring auf Schmitts tief verwurzelten Antisemitismus ein. Dieser zeigt sich nicht deutlich „biologistisch“, aber ebenso wenig „strikt konfessionell“: „Auch ein getaufter Jude ist ihm ein Jude.“ (82) Sich selbst erkennt er im Juden zugeschriebenen „soziale[n] Ehrgeiz“ und in der „psychische[n] Disposition, sich mit den Augen der anderen zu sehen“ wieder. „Die wilde Melange von philosemitischen und antisemitischen Affekten [...] vermag Schmitt kaum zu thematisieren, geschweige denn zu lösen.“ (83) An dieser Stelle, und andernorts, erweist sich, dass der Werbetext des Verlages nicht unrecht hat, wo er behauptet, Carl Schmitt sei ganz „aus den Quellen gearbeitet“: Reinhard Mehring versteht es, die Selbstzeugnisse und Schriften Schmitts für sich selbst sprechen zu lassen. Dabei treten manche Zusammenhänge so deutlich hervor, dass sich alles bloße Behaupten erübrigt. So wird unübersehbar, dass Schmitts antisemitischer Affekt von seinen durch kleinbürgerlich-bildungsferne und provinzielle Herkunft genährten Minderwertigkeitskomplexen dem urbanen, bildungsbürgerlichen Milieu gegenüber genährt wird. Überdeutlich auch, wie sehr das Werk Schmitts bei allem Insistieren auf Abstraktion, begrifflicher Klärung und geistesgeschichtlicher Vertiefung die Entwicklung der Weimarer Republik mit deren inneren, parlamentarisch unbewältigten Wirren und äußeren Verstrickungen zwischen Versailles, ‚Ruhrkampf’ und Hyperinflation, Locarno, Präsidialdiktatur und ‚Machtergreifung’ widerspiegelt. So wird die ‚tragische’ Entwicklung Schmitts vom Apologeten kirchlicher Autorität und staatlicher Ordnungsmacht zum ‚Kronjuristen’ des Nationalsozialismus, gleich wie man sie bewertet, in ihrer Folgerichtigkeit durchschaubar.

Was Reinhard Mehrings schriftstellerische Leistung betrifft, fällt die extreme Dichte und Lakonie der Darstellung auf. 570 Seiten Text (zuzüglich Apparat) – und kein Wort zu viel. Der Werbetext spricht mit Recht von „atemberaubender Intensität“. Noch staunenswerter ist, dass Mehring solche Intensität wie nebenbei, ohne erkennbares Bemühen um Dramatisierung und literarische Aufbereitung der Sachverhalte erzielt. Besonders dankenswert ist seine Bereitschaft, auf überaus diskrete Weise, ohne Zeigefingerei und pädagogisches Gewese, dem Leser Schmitts gedankliche Entwicklung transparent zu machen: Wenn neue Etappen erreicht sind, fasst Mehring rückblickend vorangegangene Stationen zusammen, um die Veränderung deutlich hervortreten zu lassen. Sehr bald ist klar, dass die wohlfeile, scheinbar so phrasenhafte Rede von Schmitt als „Shakespeare’scher Gestalt“ nicht im Mindesten übertreibt.

 

Daniel Krause

 

Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. München 2009 (C. H. Beck).

 

 

 

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