9. Januar 2011

Zeit der Tiere

 

Katha Schulte hat ihren ersten Roman geschrieben. In „Unwesen“ geht es um Menschen, Tiere und die Frage, wie man sich gegenwärtig gesellschaftlichen Zwängen verweigern kann.

 

Die Hamburger Filmkritikerin, freie Lektorin und Journalistin Katha Schulte hat ihren ersten Roman veröffentlicht. Er heißt „Unwesen“, wie in der meist abwertend gemeinten Redewendung „Unwesen treiben“. Nach Wolfgang Frömbergs Roman „Spucke“ ist Katha Schultes Text der zweite Roman im erst seit letztem Jahr existierenden, kleinen, aber feinen Verlag Hablizel. Obwohl nur 149 Seiten kurz, ist es ein komplizierter, gleichzeitig anregender Stoff. Sprachlich schwankt der Text zwischen komplexer philosophischer Reflexion und alltäglichen Beschreibungen. Die Ich-Erzählerin in „Unwesen“ hat die Arbeit in ein paar schlecht bezahlten Jobs zum Bespiel beim Objektschutz hinter sich. Sie bewegte sich im hedonistischen und oft schwer alkoholisierten Umfeld einer Hamburger Subkultur, die sich den vorherrschenden Strukturen normalen Arbeits- und Familienlebens verweigert. Eine gegenwärtig prekäre, weibliche Existenz.

Die gewohnten kollektiven Strukturen aus ihrem Hamburger Umfeld fallen mehr oder weniger auseinander, als sie körperlich schwer krank und eine Organtransplantation unumgänglich wird: „Ich sollte herzkrank sein. Ich krank? Ich ein Herz? Ich war doch jung. Ein Herz, das war doch was für Alte. Gerade war ich jung gewesen, nun war ich fast tot, mit vierunddreißig und einer blöden Bukowskibiographie und bald tot.“

Die Ich-Erzählerin arbeitet in Hagenbecks Tierpark und interessiert sich intensiv für das Leben von Tieren, beziehungsweise den kulturell bedingten Mischverhältnissen zwischen Mensch und Tier. In ihren ungewöhnlichen Reflexionen wie über die Zeit – wer hat die Zeit, wer nicht? – geht es zum Beispiel um die eigene Zeit der Tiere. Die Tiere haben, im Unterschied zu den Menschen, ihre eigene Zeit.

In diesen zeittheoretischen Reflexionen stellt sich mitunter die Frage, ob die Ich-Erzählerin, im Bezug auf die Tiere, versucht, die gesellschaftlich konditionierte Zeit in der Projektion auf die Tierwelt romantisierend zu naturalisieren. Nach dem Motto, die Tiere haben wenigstens noch ihre eigene Zeit. Aber es sind genau diese Widerspruch anregenden, merkwürdig philosophischen Reflexionen, die eine eigene Haltung zur Zeit wie zu der Gegenwart möglich machen. Wem gehört die Zeit und wer bestimmt über die Einteilung und den Rhythmus der eigenen Zeit?

Die Protagonistin in „Unwesen“ denkt über ihre eigene Generation und die vorherrschende, gnadenlose Vergesellschaftung der Zeit nach: „Ich und meinesgleichen, wir hatten nicht werden wollen wie die Alten, aber uns hatte die Zeit überholt, und inzwischen schrieben welche wie wir die Feuilletons voll, und irgendwann würde jemand in unserem Alter der Bundeskanzler sein, und wieder überholte uns die Zeit, und es wird die Bundeskanzlerin gewesen sein, die wir jetzt haben.“ Nicht werden wollen wie die Alten ist in der subkulturellen, nicht-repräsentativen Geschichte der BRD seit den 50er Jahren eine der ältesten Verweigerungshaltungen. Von den Rockern, den Hippies, den Wavern und den Punks bis zu den vermeintlich differenzlosen Ravern der Gegenwart. Es ist eine Ironie in Katha Schultes Text, diese alte subkulturelle Haltung als von der gegenwärtigen Zeit überholt zu markieren. Dagegen, gegen die Falle der gesellschaftlich konditionierten Zeit, könnte man sagen, setzt der Text die künstliche philosophische Reflexion auf Zeit bei den Tieren, in Abgrenzung, ja, Abstoßung zu den Menschen. Es klingt wie ein Tier-Werden im Kontext gegenwärtiger Zeitwahrnehmung, wobei man nicht vergessen darf, dass „Unwesen“ ein Roman und nicht ein philosophischer oder theoretischer Essay ist. Der Text stellt diese Reflexion auf Dauer, als sprachliche Verweigerungshaltung. In der Geschichte vom schwer kranken Herzen der Ich-Erzählerin und ihrer notwendigen Transplantation – im übertragenen Sinn ein Herz haben, ein Herz entwickeln – hat er seinen ästhetischen und kritischen Höhepunkt. Es gibt Möglichkeiten in den Wahrnehmungen, und es ist wichtig, ein eigenes Herz zu haben, sich ein Herz zu nehmen, ohne sich vorschreiben zu lassen, wie sich dieser gleichermaßen körperliche und intellektuelle Prozeß entwickeln sollte. Davon handelt Katha Schultes Roman „Unwesen“, leicht verstörend, zwischen Menschen, Tieren, der Hamburger Subkultur seit den 90er Jahren und der Gegenwart.

 

Christopher Strunz

 

 

Katha Schulte: Unwesen. Roman. Hablizel Verlag: Lohmar 2010, 16,90 €

 

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