31. Dezember 2010

Der aufhaltsame Aufstieg der Moderne

 

Publikationen wie diese schärfen den Blick für Zeitspannen und Asymmetrien. Die Literatur der Moderne dauerte gerade einmal gut 40 Jahre. Das ist vergleichsweise wenig, schaut man sich die deutschsprachige Literatur vom Mittelalter bis zur Postmoderne an. Allerdings hat man für die Zeit von 1910-1920, also die Zeit, die man auch das „expressionistische Jahrzehnt“ nennen kann, im deutschsprachigen Raum allein 350 Dichter und Schriftsteller ausfindig gemacht. Angesichts dieser Zahl scheint Vorsicht geboten, einem Jahrzehnt einen substanziellen oder einsinnigen Stempel aufdrücken zu wollen, zumal in dieser Zeit drei großgesellschaftliche Zustände durchlaufen werden, (Ende des) Wilhelminismus, Erster Weltkrieg, Beginn der Weimarer Republik.

 

Walter Fähnders gliedert die Zeit von 1890-1933 in drei Phasen: Naturalismus, Fin de siècle und ,historische Moderne’ für die Zeit von 1890-1910, Expressionismus, Dada und ,historische Avantgarde’ für die Zeit von 1910 bis zum Beginn der 20er Jahre, und Neue Sachlichkeit, proletarisch-revolutionäre Literatur und ,Moderne’ für den Beginn der 20er Jahre bis zur Zäsur von 1933. Die hierfür gewählten Bezeichnungen sind eine Mischung aus Selbstbeschreibungen der Zeit selbst (zum Beispiel Fin de siècle und Neue Sachlichkeit) und Benennungen aus späterer Zeit (etwa ,historische Moderne’).

 

Die trennscharfe Unterscheidung zwischen Avantgarde und Moderne liegt ebenfalls nicht auf den Straßen der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts herum, sie verdankt sich Überlegungen, wie man das Konzept Avantgarde theoretisch in den Griff bekommt. Es ist der Werkbegriff, der seit und mit Peter Bürger den Unterschied macht. Avantgardistische Künstler und Schriftsteller tendieren dazu, den Werkbegriff aufzugeben, weil sie direkt, ohne Umschweife, Kunst in Leben überführen wollen. Gleichwohl benutzen sie dazu nicht nur Schall und Rauch, sondern vor allem die literarische Gattung des Manifests. Man hat hier also immer noch mit Elaboraten zu tun, mit Mittlern, die ja etwas kommunizieren sollen. Nicht der Werkbegriff also scheint entscheidend, sondern eher so etwas wie größere oder geringere Emphase, mit der versucht wird, in die Köpfe und Herzen (usw.) anderer einzudringen. Interessant ist auch, zur Kenntnis zu nehmen, welche Etikettierungen weiterlaufen und welche einfach auslaufen. „Die Moderne“ wird in Deutschland als Wort erst 1886 erfunden!

 

Eine beispiellose Karriere von Verwendungen folgte. Aber lediglich zwanzig Jahre später wurde hier und da verkündet: „Die Moderne ist gescheitert“, so 1909 der Kritiker Samuel Lublinski, oder „Es gibt keine Moderne mehr“ von Josef Kainz bereits ein Jahr zuvor. Wie schwierig es auch ist, Mode und Moderne zu trennen, mag ein Zitat Peter Altenbergs belegen: „Der ,Erste’ sein ist alles! Denn er hat eine Mission, er ist ein Führer, er weiß, die ganze Menschheit kommt hinter ihm!“ Diese Sätze sind gerade einmal vier, fünf Jahre vor einer Zeit geschrieben, in der man einen verschärften Stilpluralismus ausgemacht hat. Wer ist nun moderner oder modischer? Altenberg oder die Pluralisten, die sich vielleicht selbst als die jeweils einzig Echten ansahen? Der vielleicht gar nicht mal beabsichtigte Effekt dieses Lehrbuchs Germanistik ist, eine gewisse Distanz zu Nomenklatur einnehmen zu lernen. Man muss sich die Karten anschauen, ob sie nicht selbst noch weitere und andere Karten tragen. Das sei gar nicht gegen Fähnders gesagt, dessen Buch nun in zweiter Auflage vorliegt, mit einem Forschungsbericht der vergangenen zehn Jahre zu den drei genannten Phasen. Neue Namen oder Begriffe sind von der Forschung nicht hinzugekommen, dagegen ist festzustellen, dass Werkausgaben prosperieren. Das sind gute Nachrichten.

 

Dieter Wenk (11-10)

 

Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933. Lehrbuch Germanistik, 2. aktualisierte und erweiterte Ausgabe, Stuttgart 2010 (Metzler)

 

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