26. Dezember 2010

Erinnerungen an einen Verkannten

 

Robert Musil gehört zu den großen Autoren des modernen europäischen Romans. Zu Lebzeiten waren Autor und Werk höchst umstritten. Ein beeindruckender Erinnerungsband versammelt nun zahlreiche Perspektiven von Zeitgenossen auf den Mann ohne Eigenschaften.

 

Was den Iren James Joyce und den Franzosen Marcel Proust ist, ist den Österreichern Robert Musil. Zu Lebzeiten verkannt und kaum gelesen, gehören alle drei inzwischen zum Inventar der jeweiligen nationalen Hochkultur und ihre Werke zum Kanon der Weltliteratur. Gelesen werden sie dennoch nur von einigen Wenigen. Dennoch ist der moderne Roman ohne ihre mehrere 1000 Seiten füllenden Romanprojekte undenkbar.

Eine Autobiografie hat keiner der drei hinterlassen. Auf die Suche nach ihrem Leben muss man sich durch ihre Romane lesen oder zu den inzwischen erschienenen Biografien greifen. Man hat also die Wahl zwischen romanesk verpackten Informationen aus erster Hand und gesammelten Hinweisen in zielgerichteter Zweit- und Drittverwertung. Der kleine Schweizer Nimbus-Verlag bietet, den ewigen Geheimtipp der österreichischen Literatur Robert Musil betreffend, nun eine erfrischende Alternative in seiner noch am Anfang stehenden Reihe En Face – Texte von Augenzeugen. Nach dem ersten Band Erinnerungen zu Vincent van Gogh liegt nun ein zweiter zu Robert Musil vor, der insgesamt 145 Erinnerungen an den Österreicher versammelt. Sieht man einmal von den willkürlich ausgewählten und eher seine Zeit als den Autor betreffenden Beiträgen zu Kindheit und Jugendjahren ab, ist dieser Band für Musil-Anfänger ebenso wie für Musil-Anhänger eine Schatztruhe. Denn die darin versammelten Erinnerungen an Robert Musil eignen sich ebenso zum Einstieg in den Musil-Kosmos wie zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Griesgram Robert Musil. Seine Bedeutung für die avantgardistische Literatur in Europa wird in diesem Band gleich auf mehrere Weise deutlich, so durch die Namhaftigkeit der Autoren der Texte sowie deren Erinnerungen.

Alfred Kerrs Besprechung von Robert Musils Erstling Die Verwirrung des Zöglings Törleß machte den jungen Dichter über Nacht bekannt. Zu Autor und Roman schrieb der große Kritiker Kerr: „In seinem Bezirk ist dieses Buch ein Lebensbuch. Geschrieben von einem selbstständigen, nach Einsicht grabenden, tapferen Geist; dem Niedriges und Widriges darum fern liegt, weil es ihm, alles in allem, um das Bedeutungsvolle zu tun ist.“ Nach dem Erscheinen dieser Kritik schaute die literarische Welt immer wieder zu Musil und seinem Schaffen. Der Österreicher stieg zu den ganz großen Autoren des beginnenden 20. Jahrhunderts auf.

Man führe sich vor Augen – und mit diesem Band geht dies erstaunlich leicht von der Hand –, dass Musil nicht nur einfach Zeitgenosse von Personen wie den schon erwähnten James Joyce oder Marcel Proust sowie von Autoren wie Franz Werfel, Stefan Zweig, Sigmund Freud, Thomas Mann, Elias Canetti, Hermann Broch, Franz Kafka, André Gide, Hermann Hesse, Franz Blei, Joseph Roth und dem späten Rainer Maria Rilke war. Er maß sich und sein literarisches Schaffen an diesen Granden der europäischen Literatur – im Positiven wie im Negativen. Thomas Mann war ihm verhasst, Joyce’ Atomisierung der Sprache eine literarische Zumutung, sein Landsmann Broch ein dumm-dreister Kopierer seines Werks. Die eigene Enttäuschung darüber, dass er sich neben diesen und anderen großen Autoren nicht durchsetzen konnte, spielte für Musils Hyperkritik gegenüber den zeitgenössischen Autoren sicherlich eine große Rolle. Zahlreiche der hier versammelten Zeitzeugen berichten in ihren Beiträgen davon, wie er sich wortkarg und verschlossen, „mitunter beleidigend antwortlos“ in Autoren- und Kritikerkreisen verhielt, wenn nicht über ihn und sein Werk, sondern über den Erfolg der anderen gesprochen wurde. Gegenüber Schriftstellerkollegen und Kritikern hat er sich meist als Ekelpaket präsentiert, so liest man in den zahlreichen Berichten.

Der Schopenhauer-Biograf Walter Schneider schreibt dazu in seinem Erinnerungstext: „Überhaupt schien er trotz seiner scharfen Beobachtungsgabe, im Allgemeinen seine Umwelt nicht wahrzunehmen oder vielleicht nur in gehobener Gesellschaft nicht. Ihm haftete etwas Arrogantes und Aggressives an. Unwillkürlich entzog er sich jedem Zugriff. Man sah ihm nicht an, dass er zu den bedeutendsten Schriftstellern seiner Zeit gehörte. […] In seiner Person trafen die divergierenden Gegensätze und Widersprüche zusammen. Er selbst war sozusagen die ideale Personifikation seines Mann ohne Eigenschaften. Seine Person verschwamm gelegentlich bis zur Unkenntlichkeit.“

Musils Lebenswerk Der Mann ohne Eigenschaften spaltete die Leserschaft. Der Grandseigneur der französischen Literatur und spätere Nobelpreisträger André Gide lehnte eine französische Übersetzung bei Gallimard ab – Musils Roman teilt dieses Schicksal mit Prousts À la recherche du temps perdu. Andere wie Ninon Hesse, die Frau von Herrmann Hesse, fieberten den einzelnen Bänden entgegen. Musil selbst ist an diesem Mammutwerk zuweilen verzweifelt, hat ganze Fassungen immer wieder verworfen. Insbesondere der zweite Teil hat ihm enorme Schwierigkeiten bereitet. Satz für Satz hat er die auf zwei Bände verteilte Fortsetzung des ersten Teils immer wieder durchgesehen, umgestellt und verändert, wie Wolfdietrich Raschs Rückblick deutlich macht. Der geplante dritte Teil des Romans ist nie erschienen.

Warum dies so ist, geht aus Alfred Kerrs Nachruf vor dem PEN-Club hervor: „Das Hervorragende kam 1930 wieder: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Riesenroman. Riesig nicht wegen seines riesigen Umfangs, sondern wegen seiner riesigen Fülle. Es ist: die kulturpolitische Betrachtung einer Epoche (in Deutschland), einer Gesellschaft (ebendort), vermengt mit der Spiegelung eines Ichs; seines Ichs, eines wertvollen Ichs. Das sein abgeschiedenes Ich überlebt.“ Was dies angesichts des nationalsozialistischen Kulturverfalls und der Barbarei, der auch Musil und seine jüdische Frau Martha ausgesetzt waren, für den Perfektionisten Musil bedeutet haben mag, kann man nur erahnen.

An seinem großen Werk, dessen Erfolg zu seinen Lebzeiten ausblieb, ist Musil zuletzt auch verarmt. Zahlreiche Spendenaktionen von befreundeten Künstlern und Kritikern oder auch von seinen verhassten Gegnern, unter denen er als schreibender Künstler trotz seiner Griesgrämigkeit hohes Ansehen genoss, konnten nicht verhindern, dass Musil gemeinsam mit seiner Frau Martha die letzten Jahre in absoluter Armut verbrachten. 1942 starb er im Schweizer Exil (Genf) an einem Gehirnschlag. „Mit ihm hat Öster.[reich] ein Talent, eine Persönlichkeit von Format verloren“, schreibt nach seinem Tod Max von Becher, der Musil als Vorlage für den General Stumm von Bordwehr im Mann ohne Eigenschaften diente. Und weiter: „Nicht eigentlich populär, kein Damenschriftsteller und Unterhaltungsromancier, war er das still anerkannte Haupt schöngeistiger Kreise, denen die Artistik unübertrefflicher Formulierung, weiser Lebenserkenntnisse und angewandter Philosophie einen höheren Genuß bot als kunstvolle Verquickung spannender Gegebenheiten. Sofern sich das […] Österreichertum noch einen Rest von Sinn für geistige Gratie und Kulturmilde erhalten haben sollte, muss es den Weg zu Musil finden, zu einer Erscheinung, die für einen Österreicher vielleicht zu kosmopolitisch, für einen weltumspannenden Geist Goethischer Prägung sicher zu österreichisch war.“

Sein bis heute nur als Fragment vorliegendes Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften ist Musils große Hinterlassenschaft, die ebenso viele Antworten wie Rätsel aufgibt, wie sein Autor zu Lebzeiten. Mit den Erinnerungen an Robert Musil mit Texten von Elias Canetti, Stella Ehrenfeld, Carlo Pietzner, Alfred Kerr, Soma Morgenstern, Alfred Döblin, Carl Zuckmayer, Walter Rathenau u.v.m. kann man sich nun auf die Suche nach Antworten auf diese offenen Fragen machen oder einfach nur der intellektuellen Faszination nachspüren, die dieser zumeist verkannte Literat auf seine Zeitgenossen ausübte.

Die Erinnerungen an Robert Musil erhellen den zuweilen düsteren Fragezeichenkosmos eines der größten und zugleich umstrittensten deutschsprachigen Autoren.

 

Thomas Hummitzsch

 

 

Karl Corino (Hrsg.): Erinnerungen an Robert Musil. En face-Texte von Augenzeugen. Band 2. Nimbus-Verlag. Wädenswil 2010. 507 Seiten. 36 Euro. ISBN: 3907142535

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon