12. Dezember 2010

Chris Wares chronisches Leiden

 

Chris Ware. Seit Jahren gilt er als der wichtigste Erneuerer des Mediums Comic, mindestens aber der nordamerikanischen Bildgeschichten. In einem Interview, das Dylan Williams 1994, kurz nach dem Erscheinen der ersten Nummer der ACME Novelty Library mit Ware geführt hat, erwähnt jener nebenbei eine Fortsetzungsgeschichte, an der er zu arbeiten begonnen hat. Er sagt nicht explizit, was er meint, doch wahrscheinlich handelt es sich um Jimmy Corrigan, the Smartest Kid on Earth, die zunächst serielle in seiner ACME Novelty Library erschienene Graphic Novel, die ihn zumindest in Comicleserkreisen berühmt gemacht hat. Die Worte, die Ware dafür findet, sind jedenfalls deutlich: "this is just dull, nothing is happening." Und bei aller Ware’schen Bescheidenheit – er hat recht. Es passiert in vielen seiner Comics. Beinahe nichts. Und die spärliche Handlung ist schmerzhaft langweilig.

 

Während ich das hier schreibe, überträgt die Website des Kultursenders arte ein Konzert anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Einstürzenden Neubauten aus der Pariser Cité de la Musique per Livestream, und ich frage mich, ob Wares Comics nicht auf gewisse Weise mit der Musik der Band zu vergleichen ist. Das Konzert ist im wörtlichen Sinne entsetzlich langweilig. Die Musik zwingt zu größter Aufmerksamkeit, die Nackenhaare sträuben sich, die Nerven sind angespannt, doch eigentlich passiert nicht viel. Auch inhaltlich und formell haben Ware und die Neubauten einiges gemeinsam: eine durchdringende Melancholie, ein leiser, oft zurückhaltender, aber ausdrucksstarker Stil, der von schrillen Pfiffen und lauten, nicht selten schiefen Schreien gebrochen wird –, oder eben von intensiven Bildern, die aus dem Layout ausscheren oder mit brutaler Einfachheit irritieren. Chris Ware und die Einstürzenden Neubauten gehen, wie man so sagt, unter die Haut. Nun sollte man diesen Vergleich nicht zu sehr strapazieren, denn beiden geschieht damit Unrecht, insofern sie auf Gemeinsamkeiten reduziert werden, während die jeweiligen medialen Besonderheiten vernachlässigt werden, die bei Ware wie auch bei den Einstürzenden Neubauten von immenser Bedeutung sind.

 

Langeweile ist jedenfalls die Wunde, in die Ware wieder und wieder den Finger legt. Und langweilig ist auch seine neuste Figur, Jordan Wellington Lint, der er die zwanzigste Ausgabe seiner ACME-Reihe widmet. Eine von vielen eindrucksvollen Bildreihen in dem Comic zeigt den jungen Protagonisten, der aus Langeweile und Irritation Haut von seinem Daumen schält. Ware zeigt das auf seine bekannt vereinfachende Weise. Und dennoch verursacht die kurze Szene, sie umfasst gerade einmal vier Bilder, beim Leser das Gefühl, sich selbst die Haut abzuziehen. Die Bilder rufen sukzessive erst den ein wenig stumpfen, ein wenig spitzen Druck des Fingernagels wach, dann den leichten sich steigernden Schmerz, wenn man langsam ein Stück Haut abpellt, und das Brennen, wenn das freigelegte rohe Fleisch berührt wird. Die kleine Wunde blutet ein wenig. Jordan steckt den Daumen in den Mund, vielleicht damit der Tropfen nicht seine Kleidung beschmutzt, oder vielleicht, um mit der Zunge die winzige Wunde weiter zu reizen. Das ist Autoaggression und Selbstverstümmelung auf einem Niveau, das fast alle Leser erlebt haben dürften. Dabei ist diese Art der Selbstverletzung zugleich lächerlich, denn sie ist verzagt und kleinteilig, sie zeugt nicht von dem Mut oder der Verzweiflung, die nötig sind, um den eigenen Körper nachhaltig zu beschädigen. Konsequent wird Jordan dann auch zurechtgewiesen: Er soll nicht am Daumen lutschen. – Darauf darf Ware bauen, dass wir diese kleinen Szenen des Unbehagens, der Traurigkeit, des Selbstmitleids und der Erniedrigung durch uns selbst und durch andere kennen.

 

Doch zum Anfang. Die Geschichte beginnt, wie oft bei Ware, mit einem Haus. Ein großer, wenig einladender Bau im Neo-Tudorstil: das Erdgeschoss Mauer-, die oberen Geschosse Fachwerk, dazu spitze Giebel. Mock Tudor heißt das auch, weil der Stil etwas historisch wie geografisch weit Entlegenes nachäfft. Es handelt sich um Lints Elternhaus. Dort wächst er auf; dort erlebt er den frühen Tod seiner Mutter, eine schwierige Kindheit, eine noch schwierigere Jugend, in der er einen Freund unter Drogeneinfluss bei einem Autounfall ums Leben bringt. Er bricht aus, rennt weg, scheitert als Musiker, wird erfolgreich als Geschäftsmann – und am Ende seines Lebens kehrt er zurück, erlebt seine letzten Tage in dem verfallenden Haus und stirbt dort. In seiner Jugend erliegt Lint der Vorstellung, er sei ein Künstler und Draufgänger, doch er ist ein Durchschnittsmensch. Sein Leben ist eine Aneinanderreihung von nur allzu gewöhnlichen Tiefpunkten.

 

Wir wünschen uns Helden, die uns mit ihren Taten inspirieren, oder – so haben es uns die Comics 80 Jahre lang vorgemacht –, die uns mit ihren Werken vergessen lassen, dass wir Jordan Lint sind.  Als Bruce Waynes Eltern von einem Straßenräuber erschossen werden, wird das zum Anlass, die Kriminalität Gothams und das Schlechte im Menschen bis aufs Blut zu bekämpfen. Aus einer persönlichen Tragödie wird so ein Schaustück vorbildlicher Krisenbewältigung (dieses Bild wird freilich später gebrochen). Immer wieder präsentiert das Schicksal Lint mögliche Wendepunkte – der Tod seiner Mutter, der Tod seines Freundes etc. –, doch Lint vergibt die Chancen. Und das ist das wirklich Schmerzhafte an seiner Geschichte und an allen Ware’schen Geschichten, es hat nie eine Chance gegeben, denn Lint ist nicht Bruce Wayne. Wenn wir einen Batman-Comic lesen, glauben wir vielleicht, den Wagemut im Fledermaushelden wiederzuerkennen, den wir uns selbst unterstellen, doch wenn wir Wares Comics lesen, spiegelt sich unsere Durchschnittlichkeit in seinen Langweilern. Das ist die bittere Kost, von der uns Ware hier den 20. Gang serviert. Lint: Das heißt Fluse.

 

Was unterscheidet Jordan W. Lint von Jimmy Corrigan, the Smartes Kid on Earth, Rusty Brown oder selbst Branford, the Best Bee in the World? Als Figur nicht viel, erzählerisch gibt es allerdings einen erheblichen Unterschied. Hat uns Ware bisher nur mit einzelnen Episoden aus dem Leben seiner leidvollen Kreaturen geschildert, führt er uns jetzt ein ganzes klägliches Leben vor, vom Erwachen des Bewusstseins bis zu seinem Verglimmen. Mag man bei Jimmy und den anderen zumindest noch die Hoffnung aufrechterhalten, ihr Leben könne eine Wendung zum besseren nehmen, so unwahrscheinlich das auch erscheinen muss, stirbt diese Hoffnung für Lint mit ihm am Ende des Bandes.

 

Wenn ein Künstler als Erneuerer seiner Kunstform proklamiert wird, darf man die Frage stellen, wie es um die Erneuerung seines eigenen Werks bestellt ist. Erfreut, und die Form ist wirklich das einzig Erfreuliche an Lint, bemerkt man, dass Ware freier mit Seitenlayouts umgeht und dass die Bildsprache stellenweise expressiver geworden ist. Auch die Verwendung von Schrift ist experimenteller als in den älteren Bänden der Reihe. Ware bleibt sich zwar auch in der 20. Ausgabe der ACME Novelty Library treu, er versucht dabei aber, seine Bildsprache zu erweitern. Die Schritte mögen klein erscheinen und er erneuert sich nicht völlig. Die Lektüre wird durch die komplexeren erzählerischen Mittel und die stärkere Verknüpfung verschiedener nebeneinander liegender Ebenen – äußere Handlung, innere Empfindung, unterschiedliche Kommunikationsmedien usw. – nicht leichter. Aber leichte Kost kann von Ware niemand erwarten. Ware bleibt eine Prise Salz für die offene Wunde. Danke dafür!

 

Christian A. Bachmann

 

Chris Ware: The ACME Novelty Library, Number 20. Seattle: Fantagraphics Books 2010

 

 

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