12. Dezember 2010

Letzte Reise

 

Der Roman "Aracoeli", der 1982 erstmals in Turin veröffentlicht wurde, ist das letzte Werk der italienischen Literatin Elsa Morante, die in Deutschland hauptsächlich - und das vollkommen zu Unrecht - als Ehefrau des Romanciers Alberto Moravia bekannt ist.

Dabei zeigt sie in "Aracoeli" ihr gesamtes schriftstellerisches Können. Morante gelingt es, einen Helden zu erschaffen, dessen Einsamkeit und Verzweiflung so groß sind, als wäre er allein auf der Welt, was Manuel in gewisser Hinsicht auch ist. Sie erzählt die Geschichte einer masochistischen Liebe von Manuel, dem Sohn Aracoelis, zu seiner Mutter, die er geradezu vergöttert, bis sie ihn schließlich verlässt.

 

Mittlerweile ist Manuel in der Mitte seines Lebens angekommen und begibt sich auf eine doppelte Reise in die Vergangenheit: Äußerlich reist er von Mailand nach Andalusien, zum Geburtsort seiner längst verstorbenen Mutter, innerlich findet jedoch die entscheidende Reise statt, zurück in Manuels Kindheit und damit hinein in eine Welt vor der Katastrophe. Er will einen Teil dessen wiederfinden, was er schon vor Jahrzehnten verloren hat und nur einmal erleben durfte: die Liebe, die er nur durch Aracoeli kennenlernte, deren brutales Ende Manuels Schicksal allzu früh besiegelt.

Schon seit frühester Jugend hat Manuel eine starke Sehschwäche, die ihn mittlerweile fast erblinden lässt, sodass er seine Umwelt nur verschwommen wahrnehmen kann. Meist ist ihm dies jedoch überaus angenehm, da Manuel gar nicht wissen will, was um ihn herum geschieht.

Meisterlich spielt Morante mit Metaphern des Sehens und Sich-Spiegelns, den rauschhaften Reiseerfahrungen, die Manuel durchlebt, gerade dann, wenn sein Blick durch das Absetzen der Brille getrübt wird. Die einzigen Bilder, die ihn interessieren, sind seine eigenen. Bilder Aracoelis, von denen er erzählen muss, um sie vor dem Vergessen zu schützen.

Weder Gegenwart noch Zukunft sind für Manuel von Bedeutung, da für ihn ausschließlich die vergangene Kindheit zählt, die er nahezu ungestört mit Aracoeli in Rom verbringt.

Ursprünglich stammt Aracoeli jedoch aus einer kargen Region Andalusiens, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, bis Manuels zukünftiger Vater sie dort kennenlernt und zu sich nach Rom holt. Manuel erzählt sich die Liebesgeschichte seiner Eltern als eine Art Märchen, von dem ihm nur wenige Details bekannt sind, die er fabulierend auszuschmücken sucht. Sein Vater bleibt ihm dabei zeitlebens ein Unbekannter, mit dem ihn ausschließlich die gemeinsame Liebe zu Aracoeli verbindet.

Schon vor seiner Geburt haftet Manuel ein schmerzlicher Makel an, denn seine Mutter wünscht sich eine Tochter, ein kleines Ebenbild ihrer selbst, das sie ebenso lieben will wie ihre andalusischen Puppen. Die Beziehung der Eltern findet zunächst im Geheimen statt, da sie - aus Manuel unbekannten Gründen - nicht sofort heiraten können. Deswegen ist der Vater gezwungen, Aracoeli zunächst in einem sehr einfachen Stadtviertel Roms unterzubringen, wo Manuel dann auch geboren wird. Dieser Geburtsort ist schon der zweite Schandfleck, der seiner Existenz anhaftet, noch bevor Manuel selbst überhaupt in der Welt angekommen ist.

Es scheint so, als wäre Manuels Schicksal schon vor seiner Geburt besiegelt, obwohl jene ersten Lebensjahre die glücklichsten seines Lebens sind. Es gibt nur ihn und Aracoeli, da der Vater nur selten zu Hause ist und sich die meiste Zeit auf Einsätzen der italienischen Marine befindet. Dem Commandante, wie selbst Manuel seinen Vater nennt, wird nur eine Gastrolle zuteil, neben Aracoeli und Manuel scheint einfach kein Platz für noch einen Menschen zu sein.

Die Mutter wird Manuel zum Weltersatz und seine Bewunderung für ihre Schönheit kennt keine Grenzen. Er ist zutiefst abhängig von ihrer Gunst und Zuneigung, die er mit steter Panik zu verlieren fürchtet. Schon früh beginnt Manuel, sich selbst als hässlich und unwürdig wahrzunehmen, was dazu führt, dass er Aracoeli immer mehr überhöht. Er hat Angst, dass er ihr bald nicht mehr gefallen wird; besonders die Brille, die er schon als kleiner Junge tragen muss, macht Manuel in seinen Augen hässlich und wird zum Symbol für nicht aufzuhaltende Veränderungen, die Manuels Glück bedrohen.

 

Doch letztlich ist es nicht Manuel, der sich maßgeblich verändert, sondern Aracoeli, die nach einem erheblichen Schicksalsschlag von einer rätselhaften Krankheit befallen wird. Die ehemals schüchterne Kindfrau verwandelt sich in eine rasende Hysterikerin, die jeden Mann haben muss, solang er nur ein Fremder ist. Gesteigert wird ihre Selbstgeißelung noch dadurch, dass sie sich auch Männern hingibt, die sie abstoßend findet, wodurch sie nicht etwa zu einer Hure würde, sondern schlimmer noch: Aracoeli gibt sich nicht einfach hin, sie fordert und erobert und wird damit zum Freier jeden Mannes, der sich dazu herablässt, sie zu nehmen.

Manuel begreift noch nicht in vollem Ausmaße, was mit seiner Mutter vor sich geht, aber er ahnt, dass schreckliche Dinge mit ihr geschehen, die sie keuchen, stöhnen und schreien lassen.

Der Ehebruch, den Aracoeli mit sich steigernder Regelmäßigkeit begeht, ereignet sich sogar während der Fahrt mit dem Fahrstuhl, auf die Aracoeli einen Handwerker eingeladen hat, dem das Betreten des modernen Aufzugs eigentlich nicht gestattet ist. Manuel beobachtet diese Szene und wundert sich über den scheinbar verrückt gewordenen Fahrstuhl, den seine Mutter aus Scheu vor aller Technik sonst nie betritt. Immer wieder fährt er hinauf und hinab, bleibt mit geschlossenen Türen stehen und setzt die Fahrt erneut fort. Manuel ist schon ganz schwindelig von dieser seltsamen Raserei, als Aracoeli ihm plötzlich verändert entgegentritt. Sie steigt jedoch nicht aus dem Aufzug, sondern kommt zu Fuß die Treppen des Palazzos hinauf. Jene eindrückliche Szene erinnert an die stundenlange Droschkenfahrt, die Emma Bovary mit ihrem Geliebten Léon unternimmt und die in der Provinz nicht nur aufgrund ihrer Dauer, sondern auch wegen der zugezogenen Vorhänge, für Aufsehen sorgt. Am Ende des Tages verlässt eine veränderte Madame Bovary die Kutsche, ist tief verschleiert und geht davon, ohne sich umzusehen. Ganz ähnlich verhält sich hier Aracoeli, die sofort eingeholt wird, von dem, was sie gerade getan hat, und die in diesem Moment am allerwenigsten die Gegenwart ihres fragenden Kindes ertragen kann.

 

Viel zu früh muss Manuel erkennen, dass eine Verbindung zwischen Sexualität und Tod zu bestehen scheint, die ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loslässt. Daher wird für den pubertierenden Manuel die Vorstellung, dass er von fremder Hand sterben wird, zu einer seiner liebsten sexuellen Fantasien. Er sehnt sich seine Ermordung herbei, da die physische Nähe des Mörders zu seinem Opfer für Manuel den Gipfel der Intimität darstellt.

 

Morante erzählt die Geschichte eines Mannes, der längst damit aufgehört hat, vom Leben etwas zu verlangen oder gar nach Glück oder Liebe zu suchen. Er begibt sich auf eine Reise, die vielleicht seine letzte sein wird, um sich an Aracoeli zu erinnern und von ihr erzählen zu können. Morante entwirft mit Manuel einen unmöglichen Menschen, dessen Leben darin besteht, keines zu haben. Es hat geendet, bevor es überhaupt richtig beginnen konnte, denn mit Aracoelis Ende hört auch Manuel auf zu existieren. Ohne von ihr gesehen zu werden, kann auch Manuel nichts mehr erkennen, wodurch seine Augenkrankheit zu einer folgerichtigen Metapher wird. Er will eine Welt nicht sehen, der er nur als unbeteiligter Zuschauer beiwohnen darf, denn Manuel ist ein Statist, der von seiner Umwelt höchstens als austauschbare Randfigur wahrgenommen wird. Es ist ein psychologischer Roman, den Morante vorlegt, denn Manuel wurde in viel zu jungen Jahren zum Augenzeugen allzu drastischer Szenen, die ihm tiefe Wunden zugefügt haben, welche die ihn umgebende Gesellschaft Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu heilen vermag. "Aracoeli" erzählt die Geschichte eines undenkbaren Lebens und entfaltet dabei eine traurige und höchst poetische Intensität, die Ihresgleichen sucht.

 

Simone Sauer

 

 

Elsa Morante: Aracoeli, Klaus Wagenbach Verlag 1997

 

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