7. Dezember 2010

Ein Adept Wolfis

 

Man glaubt ja zunächst einmal, eine kleine Fachbroschüre in der Hand zu haben. Vielleicht sogar älteren Datums, ein gut erhaltenes Exemplar einer archäologischen Editionsreihe aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die seltsame Figur, die fast die gesamte Titelseite einnimmt, ist oben und rechts eingerahmt, links schiebt sie sich noch leicht auf den Rücken des Hefts. Die Form der Abbildung sieht aus wie ein Trinkglas, aber das gezeigte Material ist Stein. Vielleicht ist es ein Fisch, der sich in Stein abgelagert hat? Oder ein Insekt? Jedenfalls muss man immer wieder auf dieses schöne Titelblatt schauen, dessen rätselhafter Charakter sich auch nach längerer Betrachtung nicht auflösen lässt. Denn genauso gut könnte man es mit einem Kunstwerk zu tun haben, das so tut, als ob es etwas Bestimmtes vorstellen würde und sich dabei doch nur hinter flickernder Abstraktheit hält.

 

Natürlich hat man mittlerweile auch den Broschürentext der Front zur Kenntnis genommen. Senkrecht geht es nach oben: NOX. Eine Kriminalgeschichte aus Ranis. Hm, Ranis, vermutlich ein Ort, aber wo? Ein deutscher, oder doch einer aus dem archäologischen Ausland? Dann auf Seite drei die Auflösung zumindest dieses Rätsels: „100 Tage in Ranis haben meine Frau und ich genossen. Wir möchten ein herzliches Dankeschön sagen!“ Das sagt also Achim Stegmüller, der mit NOX eine Kriminalgeschichte aus dem Thüringischen vorlegt. NOX ist ein Wisentbulle. Er soll Teil einer Erfolgsgeschichte werden (Wildgehege Ranis, etwas in der Art), die aus dem unbekannten Ranis eine nicht zu umgehende Tourismusattraktion machen soll. Treibender Teil des Plans ist Georg, der nur noch für das Projekt lebt. Nebenbei hat er noch eine Ehefrau. Dann ist da noch der ebenfalls am Plan mitarbeitende Kurt, der es familiär besser getroffen hat, doch plötzlich von bösen Träumen geplagt wird.

 

Und dann geschehen seltsame Dinge, nein, nicht seltsame, tödliche! Ein dunkler Schatten fällt auf einen gewissen Herrn Adler, der mit Ranis etwas ganz anderes vorhat: Ein Golfplatz soll entstehen mit angeschlossenem Hotelkomplex, also ein Projekt etwas mehr in Richtung zivilisatorischer Modernisierung. Ist es der Kampf zwischen Natur und Kultur, der hier unterschwellig ausgefochten wird? Eine wunderbar leicht daherkommende Geschichte, die es aber – wie man so schön sagt – in sich hat? Der Krimi nimmt nicht nur eine, sondern mehrere Wendungen, die alle die Tendenz des Dürrenmatt’schen „Schlimmstmöglichen“ haben. Einem Ort wird die Maske abgerissen. Wie gut, dass es da den Bürgermeister gibt, den guten Walter, der, auf seine Art auch eine tragische Figur, das seltsame Treiben einhegt und in ruhigere Bahnen zurücklenkt. Am Ende ist nichts mehr so, wie es war, aber es kann wieder von vorne begonnen werden.

 

Der Reiz dieser Geschichte wird noch dadurch erhöht, dass der, der Ohren hat zu hören, den scheinbar infantilen Erzählgeist Wolfgang Bauers durch die Geschichte spuken hört. NOX ist ein großer kleiner Spaß. Und die Leser sollten daran arbeiten, dass die „Einmalige Sonderausgabe“ mit einer Auflage von 200 Exemplaren ein Jux wird.

 

2007 erschien bei Textem Achim Stegmüllers Erzählung Nagaoka.

 

Dieter Wenk (11-10)

 

Achim Stegmüller, NOX. Eine Kriminalgeschichte aus Ranis, Edition Ranis 2010