22. November 2010

Die wilden 10er

 

Dass Thomas Anz’ Literatur des Expressionismus jetzt erst in der zweiten Auflage erscheint, liegt vor allem daran, dass die Realisierung der ersten immerhin 25 Jahre in Anspruch genommen hat. Obwohl das Projekt bereits 1977 in Auftrag gegeben worden war, lieferte Anz das fertige Manuskript erst 2002 ab. Man weiß nicht, vor wem man mehr Respekt haben soll, vor Anz und seiner offensichtlich überzeugenden Hinhaltestrategie, oder vor dem Verlag und seiner anscheinend grenzenlosen Geduld. Das Warten hat sich jedenfalls gelohnt. Thomas Anz ist einer der maßgeblichen Forscher der literarischen expressionistischen Moderne in Deutschland. Er hat als Herausgeber fungiert (z.B. gemeinsam mit Michael Stark Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920) und hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zum Thema geschrieben.

 

Die hier vorliegende Publikation –  die jetzige Auflage wurde im Verhältnis zur ersten nur leicht ergänzt – gibt dem Leser einen Überblick über eine literarische Phase, die in ihrer Heftigkeit wohl kaum ihresgleichen haben dürfte in der deutschen Literatur. Erst in der Zeit des Ersten Weltkriegs konnte sich der Begriff „expressionistisch“, der sich zum ersten Mal im April 1911 in einem Katalogbeitrag zur Berliner Secession nachweisen lässt, gegenüber seinen Konkurrenten wie „futuristisch“, „neopathetisch“ oder „aktivistisch“ durchsetzen. Thomas Anz geht dem Phänomen in drei Großkapiteln nach. Das erste bietet Begriffsklärungen; sowohl Eigen- als auch Fremdbeschreibungen weisen den Expressionismus als Spielart der Moderne und der Avantgarde aus. Soziologisch gesehen – und das vergisst man leicht, wenn man sich Termini wie „das expressionistische Jahrzehnt“ anvertraut, als ob es daneben nichts anderes gegeben hätte – hat der Expressionismus eher ein subkulturelles Dasein geführt.

 

Der Schwerpunkt dieser Publikation liegt zwar auf dem literarischen Expressionismus, es eröffnen sich jedoch immer wieder Gelegenheiten, auch den Expressionismus in der bildenden Kunst einzubinden, zumal einige der Autoren auch Künstler waren wie etwa Oskar Kokoschka. Im zweiten Kapitel werden die wichtigsten Themen und „Ordnungen der Diskurse“ vorgestellt: Keine Rede vom Expressionismus ist möglich ohne das Sprechen über den „neuen Menschen“, ohne die Kontrastierung von Bürger und Künstler und ohne Erläuterungen zur Großstadterfahrung. Das dritte Kapitel widmet sich den Bereichen Ästhetik und Poetik. Man erfährt, dass der literarische Expressionismus mehr als nur einen Hang zum Gesamtkunstwerk in sich barg. Das Drama avancierte zum intermedialen Theater, das Kino brachte von sich aus das Potenzial zur Vereinnahmung mit sich. Ein abschließendes Kapitel widmet sich den Rezeptionen des Expressionismus; interessant, dass die NS-Haltung zum Thema Expressionismus offenbar nicht so geschlossen war, wie man sich das bei einem totalitären Regime vorstellen mag.

 

Aber es gab nicht nur Positionen, die den Expressionismus als „entartete Kunst“ deklarierten, sondern die versuchten, ihn in die nationalsozialistische Bewegung zu integrieren. Durchzusetzen war das freilich nicht. Das Literaturverzeichnis bietet eine kleine Auswahlbibliografie zum Thema, Titel zur allgemeinen Forschung, Anthologien und Dokumentensammlungen sowie Publikationen zu den wichtigsten hier vorgestellten Autoren. Eine vorzügliche Einführung und Überblicksveranstaltung.

 

Ein kleiner Einwand sei dennoch erlaubt: Anz schreibt an einer Stelle (S. 168), der Dichter Iwan Goll habe den „Surrealismus-Begriff der zwanziger Jahre“ antizipiert. Offiziell entsteht der Surrealismus erst 1924. Und auch wenn Iwan Goll bereits 1919 das Wort „überreal“ gebraucht, so ist der eigentliche Antizipator des Begriffs und der Bewegung doch Guillaume Apollinaire, der bereits in der Zeit des Ersten Weltkriegs die Vokabel aus der Taufe hebt. Im Jahr 1924 schreiben sowohl André Breton als auch Iwan Goll ein Manifest des Surrealismus, letzterer schreibt darin: „Der Surrealismus ist eine von Guillaume Apollinaire angeregte Konzeption.“ Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte.

 

Dieter Wenk (11-10)

 

Thomas Anz, Literatur des Expressionismus, 2. aktualisierte und erweiterte Ausgabe, Stuttgart-Weimar 2010, (Metzler)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon