19. November 2010

Wir nannten es Gegenwart

 

„Vorstellung meiner Hände“ präsentiert frühe, unbekannte Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann

 

Habe „Vorstellung meiner Hände“ sofort zweimal gelesen, so anregend ist es. Obwohl, es sind Gedichte, und Lyrik gilt gegenwärtig dauernd als schwer zugänglich, schwierig oder im maximal unsympathischen Sound des kulturell hohen Tons auftretend. Gewöhnlich bin ich kein Leser von Gedichten. Bücher, Zeitungen, Magazine, Fernsehen, Internet, CDs, LPs, Kassetten, Radio, Konzerte, Filme. Sofort radikal anders wird sie, die Vorstellung von Gedichten, bei Rolf Dieter Brinkmann. Alltägliche Wahrnehmungen, nicht manieristisches oder betont künstlerisch automatisches Schreiben.

 

Zur merkwürdigen bis absurden Veröffentlichungsgeschichte der Texte als gegenwärtigem Buch, 2010: „Vorstellung meiner Hände“, Untertitel „frühe Gedichte“, beinhaltet Texte von Rolf Dieter Brinkmann, die er ungefähr zwischen 1959 und 1963 geschrieben hat. Bis 2005 lagerten sie im Privatbesitz eines ehemaligen Mitschülers und Mitbewohners, Peter Hackmann, der dieses Jahr gestorben ist und die beschädigten Manuskripte, – lose überlieferte Seiten, zerrissen, mit grobem Bürotesafilm überklebt, mit Bemerkungen beschriftet –, der Unibibliothek Vechta verkaufte. Laut der Herausgeberin Maleen Brinkmann ist bis jetzt unklar, wie die Manuskripte in den Privatbesitz dieses offenbar mit Rolf Dieter Brinkmann bekannten Typen gelangen konnten.

 

Der ungefähr 20-jährige Rolf Dieter Brinkmann schreibt Gedichte; Schreibanfänge, die, wie so oft, im etablierten BRD-Kulturbetrieb, nicht ernst genommen werden. Er begeistert sich früh für Texte von inzwischen klar problematisch gewordenen modernen männlichen Autoren, wie Gottfried Benn und Louis-Ferdinand Céline. Warum problematisch? Unter anderem wegen ihrer Verstrickungen in den europäischen Faschismus, siehe Klaus Theweleit. Obwohl Rolf Dieter Brinkmann anfangs nicht wirklich ernst genommen wird, gelingt es ihm, einige Gedichte zu veröffentlichen, unter anderem in der Tageszeitung „Die Welt“, in „Neues Rheinland“, in „blätter + bilder“ und „Alphabet“, einem Lyrik-Jahrbuch 1961. Laut Nachwort ergänzt „Vorstellung meiner Hände“ den inzwischen bekannten, 1980 veröffentlichten tollen Sammelband „Standphotos. Gedichte 1962-1970“.

 

Rolf Dieter Brinkmann, das versucht das vorliegende neue, schmale Buch zu betonen, arbeitete intensiv, in permanenten Wiederholungen, mit Veränderungen an seinen eigenen Texten und seien es auch nur kurze, kleine Texte, wie Gedichte. Gegen die Vorstellung von Rolf Dieter Brinkmann als originellem, einzigartigem Sprachschöpfer wird beim Lesen, zwischen Gedichten und zwei Nachworten von Michael Töteberg und Maleen Brinkmann klar, wie der Autor in intensiven Wiederholungen an und in der eigenen Sprache gearbeitet hat; auch wie er sich als Autor in schwierigen Situationen, wie den ihn abweisenden Kulturbetrieb, bewegte. Kurz, wie er – sozusagen subkulturell – beweglich geblieben ist, weiter las und schrieb, obwohl er offensichtlich vielen Abweisungen und harter Kritik, wie vom Kopf des Kölner Neuen Realismus, Dieter Wellershoff, ehemaligem Lektor bei Kiepenheuer & Witsch, ausgesetzt war. Dass Texte von Rolf Dieter Brinkmann, „frühe Gedichte“, jetzt, mit fast 50-jähriger Verzögerung als den Autor würdigendes Produkt erscheinen, wirkt wie eine schöne, nachträgliche Korrektur an exklusiven Mechanismen im Kulturbetrieb der BRD.

 

Der vorliegende Band ist inhaltlich in zwei Kapitel gegliedert: „Don Quichotte auf dem Lande“, Untertitel „Gedichte 1959/1961“ und „Vorstellung meiner Hände“, Untertitel „Gedichte 1963“. Gegenwart. Texte eines inzwischen bekannt gewordenen, damals aber unbekannten Autors, Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre. Muß man sich mental in die Zeit und die Welt des Autors zurückversetzen? Oder stellen die Texte, „frühe Gedichte“, gegenwärtig etwas an? Lassen sie Schreibende, jetzt, heute, im Jahr 2010, etwas mit und in der Gegenwart anfangen? Ihr Zugang ist einfach, nicht lyrisch schwer und verschlüsselt. Es ist ein sehr zugängliches, denkbar einfaches Rolf-Dieter-Brinkmann-Gedichte-Buch geworden. Das Thema Gegenwart ist da, als alltägliche Zeitwahrnehmung, wie in der Reflexion darauf, wie sich alltägliche Wahrnehmungen sprachlich zusammensetzen könnten. Im Gedicht „Oktobernachmittag“ heißt es:

 

„gedankliche Schwere

einige Herden, Wolken, viel Lämmer

die trieben die Lichtung

hinab –, wir nannten

es Gegenwart“

 

Wir nannten, Absatz, es Gegenwart. Was es für eine Zeit ist, welche Wahrnehmung und wie sie sich, sprachlich, zusammensetzen könnte, darauf zeigen diese Texte so anregend. Wie der Effekt von Gegenwart beim Lesen produziert wird, sprachlich, davon handeln Rolf Dieter Brinkmanns künstliche Texte. Dass sie, als sogenannte Gedichte, beim Lesen heute genau diesen Effekt produzieren können, – Gegenwart setzt sich jetzt aus vermeintlich Vergangenem zusammen –, obwohl sie aus einer anderen Zeit und einer anderen Umgebung zu kommen scheinen, ist so seltsam wie toll. Rolf Dieter Brinkmann war kein bundesrepublikanisches, originelles Genie, das seiner zu engen, muffigen Zeit weit voraus war. Rolf Dieter Brinkmann arbeitete sprachlich in der Zeit, die auch heute, im Jahr 2010, Gegenwart heißt und deren poetische Bestandteile wahrzunehmen und aufzuschreiben der Autor als seine seltsame, künstliche Arbeit begriffen hatte.

 

Christopher Strunz

 

Rolf Dieter Brinkmann: Vorstellung meiner Hände. Frühe Gedichte. Herausgegeben von Maleen Brinkmann. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 2010. 16 €

 

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