4. November 2010

Künstlich vorgeführte Projektionen

 

„Deutschboden“ ist ein böser Titel. „Deutschboden“ erinnert an die Tradition der Blut-und-Boden-Ideologie. „Deutschboden“, so heißt das aktuelle Buch von Moritz von Uslar, das eine Mischung aus detaillierter Reportage und Roman ist. Untertitel: „Eine teilnehmende Beobachtung“, wie das Konzept des Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski, entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts. Malinowskis Ansatz besteht darin, die kolonialen Voraussetzungen europäischer Anthropologen aufzugeben, sich als Wissenschaftler in den untersuchten Gegenstand miteinzubeziehen; mit „Einheimischen“ oder „Eingeborenen“ fremder Welten, wenigstens für eine Weile, zu leben. Feldforschung. Anfang der 80er Jahre, 1981, gab es außerdem eine „Teilnehmende Beobachtung“ betitelte EP der glamourösen Art-School-Band FSK.

 

Der Ich-Erzähler in Moritz von Uslars Text, wie der Autor ein Journalist, begibt sich gezielt an einen Ort, der ihm aus Berliner Perspektive denkbar fremd erscheint und doch, in Kilometern, nicht weit entfernt ist: eine Kleinstadt, einige Kilometer von Berlin entfernt, mit dem geänderten Namen Oberhavel. Offensichtlich hat er nicht die Nase vom dekadenten und glamourösen Berlin voll, sondern ist auf der Suche nach ungewöhnlichem, anderem Stoff, den er in seiner unmittelbaren Umgebung in Berlin nicht finden konnte. Der Text beginnt und endet im Gespräch des Ich-Erzählers, bei Champagner und Steaks, mit „ganz vielen tollen Leuten“, in Berlin. Ausgangspunkt des Textes sind vorherrschende Klischees und stereotype Zuschreibungen, die es gegenwärtig von der ehemaligen DDR gibt. Es ist ein radikales Kontrastprogramm, ohne ein möglichst authentisches Gegenbild zu den vorherrschenden Stereotypen von Nazis, Exnazis, Arbeitslosigkeit und Trostlosigkeit im provinziellen Osten Deutschlands, wie in Brandenburg, zu produzieren.

 

Man kann sagen, „Deutschboden“, das aktuelle Buch des Autors von „Waldstein, oder der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005“ (2006) und den gesammelten SZ-Interviews, „100 Fragen an...“ (2004), ist eine traditionelle Jungsgeschichte, wie ein Abenteuer geschrieben, in dem es nur um die zwanghafte Kneipensprache männlicher Sprecher geht, - Witzzwang -, wie es Michael André in „Der Freitag“ mit „It’s a Man’s World“ kritisiert hat. Aus der Perspektive geht es bei Moritz von Uslar um Männlichkeit; nur und ausschließlich um Männlichkeit. Wo bleibt die Weiblichkeit? Der sozial und wirtschaftlich besser gestellte männliche Ich-Erzähler setzt sich mit weiteren männlichen Figuren zusammen, in teilnehmender Beobachtung, die, in Differenz zum Ich-Erzähler, nur Hartz-IV-Empfänger, Boxer, Nazis, Ex-Nazis und Schlägertypen oder, zusammen betrachtet, sogenannte Superprolls sind. Es geht dem Ich-Erzähler um das Durchstehen schwieriger Situationen: „Es würde überhaupt andauernd um das Durchstehen von Situationen gehen: Wie kam ich durch diese und jene Situation durch, ohne allzu großen Schaden zu nehmen?“

 

Die Kritik, dass es in „Deutschboden“ nur um Männlichkeit geht, wie Männlichkeit in gegenwärtigen Situationen performativ hergestellt wird, klammert aus, wie sie im Text produziert werden könnte. Sie nimmt den Text Moritz von Uslars nicht in der Weise ernst, dass es in ihm, als von Anfang an künstlichem Schreibprojekt, um etwas Anderes - im Bezug auf Männlichkeit - gehen könnte, als Abenteuer erleben, sich beweisen, viel saufen, asoziale aber humorvolle Hartz-IV-Empfänger oder Rechtsradikale vorführen und eine Punkrockband mit Namen „5 Teeth Less“ gut finden. Es geht um das gegenwärtige Schreiben, nicht um das wirklich echte Leben von Kleinstadtbewohnern in der brandenburgischen Provinz. Es gibt eine Differenz zwischen dem Text und dem echten Leben der interviewten Menschen, die aus der Sicht des Schreibenden nicht ein Klassenunterschied ist: hier der gebildet Text Schreibende, da die lebenden sogenannten Superprolls, - aus der Unterschicht -, welche gewalttätig werden können. Es ist die Differenz von in Wörtern, Sätzen, in Sprache arbeiten, - proletarisch -, und asoziale Klischees gegenwärtiger Proletarier, - bekannt aus Funk und Fernsehen -, erfüllen. Genau an dieser Stelle, an medienwirksamen Stereotypen, wie ostdeutsche Superprolls, setzt „Deutschboden“ an und bewegt sich als Buch-Text, - nicht Fernsehen oder Die Zeit -, in einem künstlichen Zwischenbereich, der eben nicht ein echteres Bild männlicher Proletarier liefert.

 

Als Punk, wie Moritz von Uslar, kann man an „Deutschboden“ aber etwas Anderes abstoßend finden: Die erzählerische Konstellation des Selbsterfahrungstrips. Der Schreibende bewegt sich aus seinem urbanen, glamourösen Umfeld heraus, um in der ostdeutschen Provinz Anderes und sich selbst schreibend zu erfahren, bis es ihm wehtut. Warum nicht das Andere, wie andere Perspektiven und Möglichkeiten zum Schreiben, weiter in der Stadt sehen und suchen? Rainald Goetz?! Ist es nötig, sich mit brandenburgischen Nazis zusammenzusetzen und sie ihre Scheiße erzählen zu lassen, nur um in einer linksliberalen Öffentlichkeit provokant klingende Texte produzieren zu können? Nein.

 

Ende der 60er Jahre, 1969, gibt es von Elfriede Jelinek eine „Horrorgeschichte“, in der ein Fremder in eine österreichische Kleinstadt kommt, „DER FREMDE! störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs“. Darin sind viele Anspielungen auf populäre Vampirstoffe. Die sexuelle und ethnische Identität des Fremden bleibt unbestimmt, mal ist er „ein haufen ungewaschener eingeborener“, mal „ein sehr hübsches mädel“. In Differenz zu Moritz von Uslars „Deutschboden“ ist es von Anfang an ein deutlich fiktiver Text, in dem aber, da gibt es eine Gemeinsamkeit, Projektionen auf Fremde vorgeführt werden. Als etwas Reales, obwohl es ein deutlich fiktiver Text ist. Eventuell hätte Moritz von Uslar sein Buch fiktiver schreiben können, um die in seinem Kern enthaltene gesellschaftliche Kritik wie die realen stereotypen Projektionen und normalen Ängste der Menschen voreinander auf den Punkt zu bringen. Es ist, als Buch, sehr gut geschriebener Stoff. Aber es stellt sich die Frage, was es soll? Nicht welche weiteren kritischen Fragen der Text gegenwärtig anbietet.

 

Christopher Strunz

 

Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2010. 19,95 €

 

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