4. November 2010

Paul Austers Sunset Park

 

Man fährt mit der Linie R Broadway Local Richtung Bay Ridge/95th Street. Wo man einsteigt, ist ganz egal – vielleicht am Times Square, 8th Street/New York University, Canal Street, DeKalb Avenue. Kurz vor Sonnenuntergang steigt man an der kleinen und wenig ansehnlichen Station 46th Street in Brooklyn aus. Dann läuft man zwei Blocks zurück, biegt rechts in die 43rd Street und folgt ihr einen Block. Der Park, den man jetzt betritt, ist nicht groß, ein kleines grünes Rechteck, eingeklemmt zwischen 5th und 7th Avenue, 41st und 44th Street. Zum Ufer der Upper Bay hin fällt er ab, die Freiheitsstatue schaut – in Däumlingsgröße – herüber. Am New Jersey-Ufer der Bucht landet in diesem Moment ein Flugzeug und weiter zur Rechten leuchten die Hochhäuser Manhattans dumpf im Licht der untergehenden Sonnen. Willkommen in Sunset Park, der Grünanlage und der nach ihr benannten, etwas verwahrlosten aber lebhaften Nachbarschaft, die Paul Austers neuem Roman seinen Titel geben.

 

Der flüchtige Eindruck, den man auf dem kurzen Weg zum Park von der Nachbarschaft gewinnt, wird sich auf einem ausgedehnten Spaziergang bestätigen. Hier leben größtenteils Einwanderer in bescheidenen Verhältnissen, Leute aus den anderen Amerikas und aus Asien. An der Ecke 5th Ave../44th Street, auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Parks, ist ein Supermarkt, dessen Pfandflaschenautomat auch jetzt, kurz vor Feierabend, noch von einer Schlange von Menschen aus mannshoch beladenen Einkaufswagen gefüttert wird. Zwei Toastbrote kosten hier im Angebot 5$ ("plus tax"). Wer von 5-Cent-Pfandflaschen lebt, die andere achtlos in den Müll werfen, hat es da schwer, besucht sicher nicht oft die billigen Pizzabuden der 5th Avenue, in denen den ganzen Tag laut mexikanisches Fernsehen prasselt, die chinesischen Take-Aways, Taco-Läden, Tonys Herrenfriseursalon, der seit 50 Jahren nicht mehr renoviert wurde, oder die Turnschuh- und sonstigen kleinen Geschäfte, die Sunset Parks Haupteinkaufsstraße säumen.

 

Ein Stück die Straße runter liegt der riesige Greenwood-Friedhof. An seinem Rand steht – zumindest in Austers Roman – ein abbruchreifes Holzhaus, das der Stadt gehört, weil seine einstigen Besitzer gestorben und ihre Kinder die Grundsteuer schuldig geblieben sind. Dort lebt einen Winter lang die Hauptfigur Miles Heller, 28, einziger Sohn des Literaturverlegers Morris Heller und dessen erster Frau, der Hollywood-Schauspielerin Mary-Lee Swann, weil er aus dem sonningen Florida fliehen musste. Er findet Unterschlupf bei seinem Jugendfreund Bing Nathan, einem frustrierten und weitgehend erfolglosen Jazzmusiker – "the champion of discontent, the militant debunker of modern life" –, der zusammen mit zwei Freunden, der Doktorandin Alice Bergstrom und der depressiven Wohnungsmaklerin Ellen Brice, das Haus besetzt hat. Sieben Jahre zuvor hatte Miles das College und New York verlassen und seinen Verwandten, Freunden und Bekannten den Rücken gekehrt. Nur zu Bing hält er über die Jahre Kontakt und nur zu ihm kann er sich retten als die habsüchtige Schwester seiner minderjährigen Freundin, der Highschool-Schülerin Pilar Sanchez, droht, ihn an die Polizei zu verpfeifen. Aus abgöttischer Liebe zu Pilar flieht Miles in seine Heimatstadt New York und versucht dort, wie man sagt, sein Leben in den Griff zu bekommen.

 

Im Sunshine State Florida arbeitete Miles für ein Entrümpelungsunternehmen, das Wohnungen und Häuser durchgebrannter Mieter ausräumt und ihren ehemaligen Besitz entsorgt. Während seine Arbeitskollegen sich an den zurückgelassenen Wertsachen der vormaligen Bewohner bedienen, photographiert Miles "innumerable cast-off things left behind": "books, shoes, and oil paintings, pianos and toasters, dolls, tea sets, and dirty socks, televisions and board games, party dressers and tennis racquets, sofas, silk lingerie, caulking guns, thumbtacks, plastic action figures, tubes of lipstick, rifles, discolored mattresses, knives and forks, poker chips, a stamp collection, and a dead canery lying at the bottom of its cage". Es sind die alltäglichen, zerbrochenen, verlorenen, vergessenen, verschwundenen, diese letzten Dinge, die Miles beschäftigen und die auch Paul Auster seit über zwanzig Jahren schriftstellerischer Tätigkeit umtreiben. Da ist es nur passend, dass Miles nach Jahren des ziellosen Umhertreibens – zuletzt im sonnenüberfluteten Florida – in Sunset Park angespült wird, einem Stadtteil, der zuweilen wie eine Ansammlung von Verneintem und Verlorenem wirkt, in dem abgelegte Kleidung zum Mitnehmen über die Einfassungen schmaler Vorhöfe gemieteter Brownstone-Imitate hängen, wo man kaum einen Block geht, ohne eine herrenlose Fernbedienung, einen defekten Mixer, einen alten Fernseher zu finden. Auch Bing Nathan ist im Geschäft mit den letzten Dingen; in Park Slope einer feineren Nachbarschaft (in der übrigens Auster wohnt), nicht weit nördlich von Sunset Park, betreibt er das "Hospital for Broken Things", "devoted to repairing objects from an era that has all but vanished from the face of the earth: manual typewriters, fountain pens, mechanical watches, vacuum-tube radios, record players, wind-up toys, gumball machines, and rotary telephones".

 

Solche und weitere Listen – von Gefühlen, Schriftstellern, Baseballspielern, Jazzmusikern –, erinnern den Leser als variiertes Memento mori wieder und wieder an die Vergänglichkeit der Dinge. "Wir mögen Listen, weil wir nicht gern sterben wollen", schreibt Umberto Eco in seinem rezenten Buch über Die unendliche Liste. Indem wir auflisten, was uns wichtig ist, konservieren wir es und stemmen uns so mit der begrenzten Macht der Schrift gegen den Tod und das Vergessen. (Nebenbei: Vor einigen Jahren hat Paul Auster, der bald 64 wird, eine für ihn vielleicht beängstigende Liste begonnen: bei Faber and Faber erscheinen seine "Gesammelten Werke", sechs Bände liegen davon inzwischen vor.) Die Form, die Auster für den Roman findet, ist bemerkenswert, wenn auch nicht innovativ. Er stellt verschiedene Textsorten nebeneinander, lässt insbesondere keinen allwissenden Erzähler die Figuren durchleuchten, sondern erhellt sie vielmehr aus verschiedenen Perspektiven in schlaglichtartiger Polyphonie, indem er die Figuren im Wechsel miteinander übereinander sprechen, grübeln, Tagebuch schreiben lässt und vielfältige Spiegelungsbeziehungen zwischen ihnen inszeniert. Auf gewisse Weise ist Austers Roman insgesamt als poetische Liste zu verstehen, die die einzelnen Figuren skizziert und zueinander in Beziehung setzt. Entsprechend heißen die wenigen Kapitel und Unterkapitel "Miles Heller", "Morris Heller", "Bing Nathan", "Alice Bergstrom" usw. Die Elemente dieser Liste sind scheiternde Künstler und frustrierte Intellektuelle. Der sexuell unentschlossene Bing Nathan, dessen aufrührerische Jazzband "Mob Rule" kaum Erfolg verbuchen kann, Ellen Brice, deren sterile Stadt-Malerei sich als künstlerische und persönliche Sackgasse herausstellt, Miles Heller, der überaus intelligente drifter, der weder in seinem überdurchschnittlichen Intellekt noch in seiner Belesenheit Halt findet, Jake Baum, der mediokre Autor mediokrer Kurzgeschichten ... es ist ein schattiges Milieu, das Auster hier entwirft.

 

Die Redensart "it's always darkest before dawn", die im Roman zitiert wird, kann kaum aufmuntern, denn in Sunset Park ist gerade erst der Sonnenuntergang angebrochen. Bei all der Tristesse, die hier nur angedeutet, im Roman aber facettenreich dargestellt wird, bleiben nur wenige helle Flecken, Funken von Optimismus, die sich zum Ende hin entfalten – zumindest manche. Im Spätlicht Sunset Parks werden die Schatten länger. Über dem Roman liegt bei aller Klarheit und Nüchternheit von Austers Sprache die melancholische Abendrot-Stimmung eines Amerika in der Krise. Dass Auster gesellschaftliche Probleme in seine Romane einfließen lässt, ist eine relativ junge Entwicklung, die erst mit Man in the Dark (2006) wirklich begonnen hat. In Invisible (2009), dem letzten Roman, der mit Sunset Park manches gemeinsam hat, fungiert der Vietnamkrieg als Folie für eine Kritik an US-amerikanischem Denken und Leben. In Sunset Park wird nun die zeitgenössische Wirtschafts- und Gesellschaftskrise ganz direkt thematisiert. Damit erfindet sich Auster nicht neu; die vertrauten Themen, Motive und Schreibweisen, die den Vorwurf begründen, er schreibe Literatur für Literaturwissenschaftler und Intelektuelle – für die happy few, die er in seinen Romanen immer wieder porträtiert –, sind weiterhin dominant, aber sie werden in Sunset Park um eine soziale Dimension ergänzt, die das Buch umso lesenswerter macht.

 

Der Roman führt eindringlich die Schäden vor, die die Rezession der letzten Jahre mehr oder minder direkt bei den Menschen hervorgebracht hat: die persönlichen Krisen, Zukunftsängste und eine allgemeine Haltlosigkeit, aus der sich, so kann man sich leicht ausmalen, die gesamtgesellschaftliche Schieflage entwickelt, ein fundamentaler Zweifel am eingeschlagenen oder einzuschlagenden Weg. Miles Hellers Generation sucht genauso Halt und Orientierung in der Vergangenheit wie die ältere Generation Morris Hellers. Das äußert sich in der Ablehnung moderner Technik durch Bing, in der wissenschaftlichen Untersuchung sich wandelnder männlicher Rollenbilder nach dem Zweiten Weltkrieg durch Alice Bergstrom. Und auch in Miles’ und Morris’ Erinnerung an obskure Baseballspieler, die vor allem durch ihre außergewöhnlichen Schicksale, die meist dadurch auffallen, dass sie scheitern oder auf besondere Weise körperlich und seelisch beschädigt werden (und insofern die handelnden Figuren spiegeln) scheint dieses Bedürfnis durch. Bezeichnenderweise sind die Sportler am Ende des Romans tot. Doch über diese gemeinsame Erinnerung finden zumindest die beiden Heller-Generationen langsam wieder zusammen.

 

Das Haus zwischen dem Greenwood Cemetery und dem Sunset Park suspendiert die Squatter nur für absehbare Zeit von der Außenwelt. Die Räumung des besetzten Hauses durch die Polizei ist keine Vertreibung aus dem Paradies, denn es ist von Anfang an kein sorgenfreier Garten Eden – sie ist vielmehr von Anfang an eine unabwendbare Gewissheit. Die Frage, die am Ende des Romans beantwortet wird, ist nicht ob, sondern wie und mit welchen Konsequenzen. "Lady Liberty", das New Yorker Symbol des American Way of Life, schaut aus der Ferne zu.

 

Christian A. Bachmann

 

Paul Auster: Sunset Park. New York: Henry Holt 2010 / London: Faber and Faber 2010 (auf Deutsch irgendwann bei Rowohlt)

 

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