1. November 2010

Secret Service

 

Nicht nur ein Mann, mehrere Männer stehen im Walde. Sie befinden sich auf einer Lichtung. Viel zu sehen ist trotzdem nicht, denn es ist Neumond. Deshalb haben sie Fackeln mitgebracht. Es soll aber auch etwas vorgelesen werden. Direkt vor einer Eiche, die vom Blitz getroffen wurde. Dann wird es wieder still, und stumm verlassen die Männer, jeder für sich, den geheimen Ort. Einmal sollen die Männer sich sogar verlaufen haben. Natürlich hatten sie dann Angst. Aber genau dieses Erlebnis wollten sie mit nach Hause nehmen.

 

Es gibt eigentlich nur ein Land, in dem eine solche Geschichte sich einigermaßen glaubhaft hätte abspielen können, und das ist Deutschland. Tiefe Romantik, Männerfreundschaft, Naturekstase. Aber man täuscht sich, und das auch noch doppelt, denn diese nächtlichen Begebnisse spielten sich Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in einem Wald in der Nähe von Paris ab. Kaum zehn Leute kamen da zusammen, gerade genug, um überhaupt so etwas gründen zu können wie eine Geheimgesellschaft, denn um eine solche handelte es sich bei dieser kleinen Männerschar. Der Name der Gesellschaft: „Acéphale“, also „Kopflos“ (im umgangssprachlichen Französisch heißt acéphale auch „dumm“). Der Kopf der Truppe, ohne den sie nicht entstanden wäre: Georges Bataille. Die Gesellschaft bleibt allerdings nicht so geheim, dass sie nicht von sich reden machte, denn sie publiziert, mit eben diesem Titel, Acéphale. Und darin erfährt man zwar nicht so viel über den Waldgang als Ritual und Initiation, aber doch einiges über den Sinn von Acéphale. Nichts Geringeres als ein neuer Mythos soll entstehen. Anders gesagt eine Gesellschaft ohne Kopf im Sinne von Steuerungszentrum.

 

Acéphale ist gegen Christentum, Sozialismus und Faschismus. Gegen gewaltausübende Hierarchien. Allerdings versteht sich die Gesellschaft nicht als Kampfbund. Denn zunächst einmal geht es um die eigene Erfahrung, die nur jeder für sich machen kann und sich nicht aufzwingen lässt. Und es sind Grenzerfahrungen, in die jeder eintauchen soll. Solche, die zeigen können, dass das, was man ist, nicht alles ist, was man sein kann. Erreicht werden soll aber nicht eine Einübung in ein bloßes Möglichkeitskalkül des So, oder So, oder auch So. Das Spiel soll sich wesentlich härter gestalten, so etwas wie Cartesische Meditationen, nur dass wirklich, wenn auch „nur“ innerlich, mit dem „bösen Dämon“ gekämpft wird. Was bleibt übrig, wenn der Kopf ab und Abschied genommen ist vom Prinzip der „Kephalisierung“. Wie gelangt man in ekstatische Zustände? Wie lange lassen sie sich halten? Und was macht man danach mit dem normalen Leben, das ja weitergeht? Wie kommuniziert man das religiöse Gefühl des Außer-sich-seins und wie trägt man es ins allgemeine Leben, wenn Acéphale keine Kirche sein soll?

 

Wem diese Fragen und die anfangs zum Besten gegebene Anekdote über den Waldgang nicht allzu absurd vorkommen, findet in Rita Bischofs Buch über Acéphale Informationen über die Hintergründe dieser kleinen Welt à part. Obwohl sie eine Frau ist, kann sie dieser Männerwelt einiges abgewinnen. Und obwohl sie nicht verhehlt, dass das Programm der Kopflosigkeit notwendigerweise scheitern musste, legt sie nicht kritisch die Finger auf die empfindlichen Stellen. Ihr Konzept gilt eher dem voluntaristischen Auftrag der Gruppe, den sie auf allen drei Flügeln von Acéphale verfolgt (Ritual, Zeitschrift, Mythos) und dabei Material vorlegt, das bislang nicht publiziert war. Darüber hinaus situiert Bischof Acéphale als soziales Geheimereignis zwischen der Bewegung „Contre-Attaque“ und dem von Bataille und Roger Caillois initiierten „Collège de Sociologie“, das mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs sein Ende fand. Am ehesten wird man Zugang zu Acéphale finden, wenn man es als Happening avant la lettre versteht, als eine Kunstaktion von Nicht-Künstlern, die am eigenen Leib und an der eigenen Seele operierten. Die Avantgarde hat immer das Zeug gehabt, abzustoßen. So auch hier.

 

Dieter Wenk (10-10)

 

Rita Bischof, Tragisches Lachen. Die Geschichte von Acéphale, Berlin 2010 (Matthes & Seitz Berlin)

 

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