15. Oktober 2010

Irritierend produktive Offenheit

 

Seit Anfang der 80er Jahre, Rainald Goetz’ erstem Roman „Irre“, seinen Texten in Spex und anderen Magazinen, haben sich viele Fans auf eine bestimmte Vorstellung des Schriftstellers eingegroovt. Rainald Goetz, das ist der, der in den 80ern über Psychiatrie schrieb, dann über die RAF und Anderes, später übers Feiern und das Nachtleben. Das ist der, der in den 90ern so distanzlos affirmativ geworden ist, die Berliner Love Parade gut fand und mit dem weltweit bekannten DJ Westbam befreundet ist. Rainald Goetz ist auch ein Autor, der in seiner eigensinnig radikalen Fixierung auf Gegenwart, – das Beschreiben, protokollieren und kommentieren gegenwärtiger Ereignisse –, ein Vorbild für viele AutorInnen der Popliteratur seit Anfang der 80er Jahre geworden ist.

 

Seit dem als Buch veröffentlichten Vanity-Fair-Internetblog „Klage“, „loslabern“, dem weniger bekannten, zusammen mit dem Künstler Alber Oehlen produzierten Text „D.I.E - abstract reality“ und jetzt „elfter september 2010“, Untertitel „Bilder eines Jahrzehnts“, wird oft beschrieben, wie anders der dunkelblaue Rainald Goetz in „Schlucht“ im Kontrast zu früheren Texten ist. Es gibt, einfach gesagt, nicht mehr nur die Party, wie in Heute Morgen, der Geschichte der Gegenwart. Jetzt sind seine Texte distanzierter, ruhiger, eventuell sogar erzählerischer geworden. Dunkles Blau statt grellem Orange. Diese Haltung zu den zeitlich neueren Texten von Rainald Goetz macht vergessen, dass die Texte in Heute Morgen, gerade beim heutigen Lesen, genauso artifiziell und erzählerisch wirken. Sie sind nicht unmittelbare Produkte der Gegenwart des Autors in den 90ern, sondern künstliche Texte.

 

Das Thema in „Schlucht“, von „Klage“ und „loslabern“ bis „elfter September 2010“, ist auch jetzt Gegenwart; allerdings, altmodischer, im Stil klassischer Historiker, nicht nur Michel Foucaults, die Gegenwart eines Jahrzehnts, der nuller Jahre. Dabei macht der Autor, noch viel mehr als er es in „Abfall für alle“ getan hat, die eigene Schreibweise und die Reflexion über das eigene Schreiben, wie in „loslabern“, - einfachem, unkontrollierten Sprechen -, zum Stoff. Die chronologisch geordneten Fotos in „elfter September 2010“ aus dem Archiv von Rainald Goetz, von 2000 bis 2010, könnten, wie bei Rolf Dieter Brinkmann, als Arbeitsbuch und Vorarbeit für folgende, daran anschließende Projekte angesehen werden. Es sind einfach Bilder, mit kurzen Bildunterschriften versehen; es gibt keine große literarische Komposition, kein Genre, außer der chronologischen, geschichtlichen Ordnung und der durch sie implizierten Erzählweise, von damals bis heute. Was ist es für eine Zeit gewesen? Wie, jetzt? Blick zurück, Blick nach vorn.

 

Warum wählt der Autor als Titel für dieses Buch ein traumatisches mediales Ereignis, das Datum elfter September, als sogenanntem Datum des Jahrzehnts? Es geht im Text nicht um eine Analyse oder Dokumentation der Terroranschläge auf das New Yorker World Trade Center und ihrer politischen Folgen, in Alltagsgeschichten der nuller Jahre. Der elfte September steht als Datum des Jahrzehnts eventuell für das geschichtlich und politisch Unbegreifliche. In seiner eigenen Geschichte der chronologisch gezeigten Bilder steht Rainald Goetz‘ Buch in Differenz zu den an das Datum geknüpften weltpolitischen Entwicklungen. Man kann den Titel des Buches problematisch finden, da er an das traumatische Ereignis der antisemitisch und antiamerikanisch motivierten Terroranschläge in New York erinnert, ohne es wirklich politisch zu reflektieren. Stattdessen gibt es nur die eigene Bildergeschichte eines Schriftstellers, meistens in Berlin, nicht in New York. Es könnte eine gegenwärtige künstlerische Instrumentalisierung des traumatischen Ereignisses sein. In Differenz dazu können die „Bilder eines Jahrzehnts“ in „elfter september 2010“ auch als radikale Abkehr von einer bestimmten Bilderpolitik in mächtigen Massenmedien gelesen werden. Sie stellen ihre eigene Gegenwart her, ohne die Existenz der offensichtlicheren politischen Gegenwart zu leugnen oder zu ignorieren.

 

In „elfter September 2010“ gibt es neben Baustellen, Plätzen, Parks und Gebäuden viele Bilder, auf denen relativ prominente Menschen in Berlin abgebildet sind: Politiker, Theoretiker, Schriftsteller, DJs und Künstler. Es gibt aber nur selten eine Unterschrift, die diese prominenten Menschen mit ihren geläufigen Namen bezeichnet. Das heißt, die Typen sind bekannt: DJ Westbam, Benjamin v. Stuckrad-Barre, Schröder, Möllemann, Stoiber, Kohl, Christian Kracht, Daniel Richter, Albert Oehlen, Diedrich Diederichsen, Jonathan Meese, Moritz von Uslar, Rocko Schamoni oder Schorsch Kamerun. Aber Rainald Goetz zeigt sie in einem Licht, das nicht mit Gala und Boulevard identisch ist. Es sind Körper, vermeintlich bekannte, jetzt ohne extra gekennzeichnete Namen. Dadurch wird das irritierend Situative dieser Bilder unterstrichen und die Autorität großer, wichtiger Namen beim Lesen pulverisiert. Dass Rainald Goetz im Kulturbetrieb inzwischen selbst ein großer Name geworden ist, dessen Größe nicht einfach durch die neue Kleinschreibung abgeschafft werden kann, - „rainald goetz“ -, ist eine andere, lustige Geschichte.

 

„Celebration“, im Untertitel „90s, Nacht, Pop“ heißt ein 1999 veröffentlichtes Buch, in dem es ebenso Bilder des Autoren in den 90er Jahren zu sehen und zu lesen gibt. Es gibt von Andy Warhol in den 80er Jahren ein Fotobuch, das „America“ heißt, in dem ebenso viele amerikanische Prominente situativ gezeigt werden. In „elfter september 2010“ sind Bilder aus den nuller Jahren, chronologisch und in drei Kapitel geordnet: „In den Ruinen der Projekte“, „Ruine“, „Werkwärts 3 & 4“. Klar ist „Werkwärts 3 & 4“ eine offene Anspielung auf Rolf Dieter Brinkmanns „Westwärts 1 & 2“. Was die Lesenden aus dieser offenen Anspielung, dem veränderten Zitat des Titels, gegenwärtig machen, ob sie als schriftstellerische Verneigung (große Geste) vor Brinkmann oder als Ansporn begriffen wird, Texte Rolf Dieter Brinkmanns gegenwärtig für eigene Arbeiten, wie in einer offenen „Werkstatt“ produktiv zu lesen, - so dass man einfach selbst was damit anfangen kann -, wird ihnen selbst überlassen. Diese Möglichkeit zu sehen, eigene Bilder zu produzieren, um „Gegensinn“ zu erregen, - gegen die vorschreibende Bilderpolitik mächtiger Medien -, um eigene Geschichten schreiben zu können, wirkt wie ein offenes, künstliches und künstlerisches Angebot des Autors. Es ist ein gelungenes, tolles Bilderbuch für Erwachsene aus lauter schwarz-weißen Fotos für LeserInnen geworden, die sich auf seine irritierend produktive Offenheit einlassen können.

 

Christopher Strunz

 

Rainald Goetz: elfter september 2010. Suhrkamp: Berlin 2010, 34, 90 €

 

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