27. September 2010

« Traumfabrik »

 

Emil: Du musst auf ihn aufpassen, er spielt auf zu viel Klavieren! Er springt von hüben nach drüben… und er kann das „hier“… das „hier“ vom Traum aus beeinflussen… aber ich bin ihm gefolgt… (irre singend)… ich bin ihm gefolgt, hehe…

Wolfgang Bauer, „Ach, armer Orpheus!“

 

Die Frage, wie man jemanden beeinflussen, verändern, manipulieren, ja : programmieren kann, steht am Anfang der Kunst des abendländischen Dramas. Katharsis hieß das Zauberwort, eine Reinigung sollte erzielt werden. Noch das natürlich sehr freche „épater le bourgeois“ der Modernen richtet sich gegen eine Normalität, die als unerträglich galt. Eine sehr viel sprödere Reinigung stellt sich der Künstler Bruce Nauman vor, wenn er einen Raum so einrichtet, dass der den Raum betreten wollende Besucher mit den immer wieder geäußerten, mal geflüsterten, mal laut gesprochenen Worten empfangen wird: „Get out of this room; get out of my mind“. Nauman scheint dabei vorauszusetzen, dass man schon drin ist, in seiner „mind“. Aber wie soll das gehen? Wenn man, an der Haustür stehend, zurückgestoßen wird?

 

Sehr viel subtiler agiert die auch schon über hundert Jahre alte Psychoanalyse, wenn sie von sogenannten Übertragungsphänomenen spricht. Das Gespenstische, ja Magische daran: Der, auf den etwas übertragen wird, weiß gar nicht, dass es nicht für ihn gedacht war. Eine Faulheit, eine Schlampigkeit des Geistes des Übertragenden. Was dennoch dazu führt, dass ein paar mehr Leute im Spiel sind. Schattenboxen, Stellvertreterbegegnungen. Wie auch immer man nun eine „analytische Sitzung“ beschreiben mag, das Wort „Analyse“ scheint eher darauf hinzudeuten, dass da etwas aufgelöst wird, zum Beispiel ein „Komplex“. Wie aber soll man sich eine Prozedur vorstellen, bei der etwas in jemand anderen eingepflanzt werden soll? Zum Beispiel ein bestimmter Gedanke. Der von so großer Kraft wäre, dass er eine bestimmte andere Sicht auf die Welt erzeugen würde. Nun haben Theorien mit autopoietischen Ansätzen ganz plausibel zeigen können, dass es unmöglich ist, direkt mit einem Bewusstsein zu kommunizieren. Wir können projizieren, aber wir können nicht direkt implantieren, obwohl das natürlich eine sehr moderne Fantasie ist. Wir wissen nicht, was dabei herauskommt, wenn wir glauben zu manipulieren. Und wo und wie fängt man an?

 

Eine Frage, die in Christopher Nolans Inception den Spielteilnehmern immer wieder gestellt wird, lautet, ob sie sich daran erinnern können, wo eine bestimmte Sequenz begonnen habe. Nicht umsonst scheint dieser Film „Inception“, also „Anfang“, „Beginn“, zu lauten. Der Anfang dieses Films taucht noch einmal später auf. Andere Partien werden anders fortgeführt: Erinnerung? Reprise? Spirale? Zitat? Wie fragil, ja unmöglich auch immer diese Traumebenenverknüpfungsarchitektur aussehen mag, immerhin gibt es ein paar Daten, die anscheinend nicht selbst zu den Ereignissen einer gezielten Manipulation (inklusive einer eben dadurch abgerufenen Gegen-Manipulation) gehören: ein Familienvater, der durch einen letzten Einsatz zu seinen beiden Kindern zurückzukommen versucht; ein asiatischer Geschäftsmann, der versucht, einem Konkurrenten ein Wirtschaftsimperium streitig zu machen: Beide können durch eine Kooperation, so scheint es, nur gewinnen, denn was würde man durch einen bloßen Traumeinsatz zu verlieren haben. Und doch tauchen im Laufe der Verknüpfungen ein paar Fragen auf, die nicht so leicht zu beantworten sind: Ist die Frau wirklich tot, oder lungert sie nicht doch irgendwo in dieser völlig abgerotteten Stadt herum, gefangen im „Primärprozess“, der sich im Film artikuliert durch eine komplette Abnabelung von der Realität: Der Sprung der Frau? Vielleicht auch nur ein Sprung im Traum, von einem Level in den nächsten… Und überhaupt: Was ist das für eine Figur? Die einer Hineinwindung in den Primärprozess mit der Diagnose einer totalen Psychose? Was für Vorbehalte hat der Vater sich gegenüber und die anderen mit Bezug auf ihn? Es ist von Schuld die Rede, der Unmöglichkeit, selbst der ideale Architekt des Traumgespinsts zu sein. Die Last der Schuld kommt auch dann zum tragen, wenn andere für die Architektur (sprich: das fluide Work-in-Process-Drehbuch) zuständig sind.

 

Wenn also der Erfinder der Psychoanalyse der Vater des Programms dieses Films genannt werden kann: Das Unbewusste bestimmt unser Verhalten, auch wenn wir das nicht mitkriegen – ja, genau weil wir es nicht mitkriegen; so darf paradoxerweise die Musikerin Laurie Anderson, die die Urenkelin Freuds sein könnte, die Großmutter von Inception genannt werden: Denn wer einmal von ihr die Botschaft „Language is a virus“ gehört hat, vergisst weder Song noch die Message. In Nolans Konzeptfilm ist es der „Gedanke“, der ein Virus ist. Im Grunde egal welcher. Er muss nur genau passen und dann entsprechend operieren können. Er muss das Zeug haben, das Bewusstsein von unten durchsteppen zu können. Als ob es das Selbstverständlichste von der Welt wäre. Die Frage des Films lautet also: Wie kriege ich einen Gedanken in den Kopf einer Person, ohne dass diese das mitkriegt und ohne dass sie diesen Gedanken als fremden erkennt.

 

Nolan ist natürlich nicht der erste, der diese Frage und ihre mögliche oder unmögliche Antwort umsetzt in eine künstlerische Konstruktion. In ein Traumspiel. Der Trick dabei: Die Virtualisierung des Traums, der ja bekanntermaßen nicht real ist, sondern eben nur vorgestellt, soll gleichzeitig manifeste Auswirkungen in der Realität haben. Um nichts Geringeres geht es als um die Eroberung, die Besetzung des Unbewussten als der verdeckten Schaltstelle, die zuletzt die Ereignisse in der Realität zu verantworten hat. Also muss man versuchen, jemanden so und so zum träumen zu bringen. Der Traum – oder die Träume, die ineinander verschachtelt sind – dürfen nicht einfach so abrollen, sondern müssen geleitet werden, eben von fremden Interessen, die es auf ein fremdes Unbewusstes abgesehen haben. Wenn es nun, wie schon gesagt, eher schwierig ist, direkt mit einem Bewusstsein Kontakt aufzunehmen, dürfte sich die Unmöglichkeit, soweit das möglich ist, noch weiter potenzieren bei dem Versuch, dem Unbewussten einen kleinen Besuch abzustatten, und sei es „nur“ dadurch, dass man zu einer Person im Traum des zu Manipulierenden wird. Diese Person ist nun zugleich drinnen und draußen, sie ist Agent und Spielführer, gehört zu den dramatis personae und darf nicht zugleich im Primärprozess aufgehen.

 

Das ist der unmögliche Einsatz des Films, über den man sich mokieren kann, aber dann würde man erst gar nichts von der Raffinesse des Films erfahren, der natürlich eine Übereinstimmung ins Visier nimmt, die jenseits aller Kontrolle liegt, aber genau von dem Wunsch erzählt, diese doch einmal ausüben zu können. Und dass wir einmal ganz dicht daran waren, sie einmal ausgeübt zu haben, davon weiß jeder ein romantisches Lied zu pfeifen just in dem Moment, in dem die narzisstische Falle der Verliebtheit nicht mehr so geölt läuft wie für alle Zukunft angenommen. Dieser Spiegel muss sowieso zerbrechen (was auch im Film geschieht, allerdings nicht in einer Liebessituation). Alles Weitere regelt das Kunsthandwerk.

 

Dieter Wenk (09-10)

 

Christopher Nolan, Inception, USA 2010