18. August 2010

Cutting Edge

 

Einen eigenwilligen Bereich zwischen Free Jazz und Improvisation erschließt Henry Threadgill. Seit über 40 Jahren arbeitet der aus Chicago stammende, in New York lebende Threadgill als Bandleader und Komponist mit diversen Ensembles. Threadgill spricht hinsichtlich seiner Kompositionen auch von Bezügen zur Zwölftonmusik. Und manche seiner Werke lassen sich als eine eigene Dimension neben den Harmolodics, von Ornette Coleman eingeführt, bezeichnen. Große Worte also, die eine entsprechende Erwartungshaltung hervorgerufen hatten bei mir, bevor ich im Mai 2010 erstmals ein Konzert von Threadgill mit seiner aktuellen Formation Zooid im Nightclub Bayerischer Hof in München besuchte: Ich treffe erst einmal nicht auf Erwartetes. Etwas ratlos höre ich ein Stück an, bei dem ich nicht weiß, wie es einzuordnen ist und was ich von davon halten soll. Der elitistische Threadgill, in legerer Leinenhose und -hemd regelrecht betont unprätentiös aussehend und sich auch so verhaltend. Lange Parts über steht er während des Auftritts immer wieder nur zuhörend vor seinem Partiturheft mitten auf der Bühne und lässt die Bandmusiker spielen. Bis in jedem Stück irgendwann doch ein Moment kommt, bei dem er beschließt, mit verschnörkelt-leichten Fötenmelodien oder relativ hartkantigen Alt-Saxofontonfolgen absolut souverän einzusteigen. Sofort wie umgeschaltet wird dabei dann aus zurückhaltendem Sound spannungsgeladenes Spiel auf einer Ebene ohne Genregrenzen. Vor allem wenn er das markantere seiner beiden Instrumente, das Alt-Saxophon, einsetzt. Und ich gerate nach meinem anfänglichen Zögern doch fasziniert in den Bann seiner Musik. Nicht leicht einordbar in chromatisch, seriell, Dur, Moll. Mit ganz eigenen Strukturen sind seine Kompositionen und das Interpretieren und Improvisieren jedes der fünf Musiker von Zooid. Die Kompositionen sind entlang einer Serie von Intervallblöcken organisiert für jeden Musiker. Diese sollen sich frei innerhalb der Intervalle bewegen, Melodien improvisierend, Kontrapunkte kreierend. Es geht um das Perfektionieren eines neuen Systems des Improvisierens in einer Gruppenkonstellation. Zooid bedeutet: „…a cell that is able to move independently of the larger organism to which it belongs…“ Die Rhythmusarbeit von Schlagzeuger Elliot Humberto Kavee kann spezielle, ureigenste Wege einschlagen. Reizvoll auffällig wirken die Akzente, die Jose Davila mit der Tuba setzt, der manchmal an die Posaune wechselt und sich auch in Rhythm-Section mit dem fließenden, aber raffinierten akustischen Bassspiel von Stomu Takeishi befindet. Der Gitarrist Liberty Ellman spielt eine akustische Collings 01 aus Texas. Eine merkwürdig kleine Gitarre, ein beachtenswerter Gitarrist. Sich einfügend versonnen tiefenimaginativ und auch klartraumhaft herausragend solistisch. Die 2009 veröffentlichte CD von Henry Threadgill Zooid, auf der dies alles festgehalten ist, heißt „This Brings Us To, Volume I“ (Pi Recordings/Alive).

 

Tina Karolina Stauner

 

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