5. Juli 2010

Sag ja zur Kulturrevolution

 

Erst kürzlich, in der Kampfschrift Guerres Secrets, legte Philippe Sollers erneut ein Bekenntnis zu seiner starken Beziehung zu China ab. Aber zu welchem China? Vor genau 30 Jahren, im September 1980, hatte Sollers ein Interview gegeben, das im Sommer 1981 in seiner Zeitschrift Tel Quel unter dem Titel Pourquou j’ai été chinois erschien. Das Wort „chinesisch“ hätte er bequem gegen das Wort „maoistisch“ austauschen können, denn eben um seine Vergangenheit als Maoist („telquélien maoiste“) ging es u.a. in dem Gespräch mit Shuhsi Kao.

 

1972 war eine China-Doppelausgabe in Tel Quel erschienen, zwei Jahre später reiste eine Delegation des Magazins (Sollers, Kristeva, Jean Wahl, außerdem Roland Barthes) ins Land der Kulturrevolution, um dem Westen chinesische Beine zu machen. Doch natürlich kam es anders. Solschenyzin begann über die sowjetischen Lager zu informieren, und dass die chinesische Revolution nicht ganz ohne Blutvergießen verlaufen war (und man Sollers, wäre er Chinese gewesen, sicher aufs Land zur Umerziehung geschickt hätte), blieb auch im Westen nicht sehr lange ein Geheimnis. Auch Sollers gibt das zu. Dennoch rechtfertigt er sie, und zwar mit dem Argument, dass man „ohne das“ möglicherweise niemals von den Chinesen erfahren hätte. (In Zorn und Zeit kritisiert Peter Sloterdijk das Totschlagargument der hegelianischen „List der Vernunft“ in Bezug auf Sollers.) Anders gesagt: Der Avantgarde-Status ist für Sollers das Allerheiligste. Und in den späten 1960er Jahren war der Kandidat Nummer 1 nun einmal China: „… pour la première fois, la Chine émettait le message.“

 

Der völlig apolitische Charakter Tel Quels (gegründet 1960) ändert sich in dieser Zeit radikal, Sollers schreibt seinen ersten „chinesischen“ Roman, Nombres, der im April 1968 erscheint. Darin würde, so Sollers im Interview, das Erscheinen Chinas angekündigt. Was das genau beinhalten würde, sagt Sollers nicht, aber ex negativo, auf Grundlage seiner antibourgeoisen Haltung, ist klar, dass „China“ zunächst ein willkommener Projektor ist, mit dem auf westlichen Umsturz gezielt wird. Dabei ist Sollers kein Aktionist und der „Telquelismus“ kein komplexes Flashmob-Programm. Die Radikalität der Haltung ist vor allem im Schreib- und Schriftkonzept zu suchen. Das – typisch Avantgarde-Trick – mächtig aufgeladen wird. Da die „abendländische Rhetorik“ am Ende sei, müsse anders geschrieben werden. Tel Quel legt ein „materialistisches“ Verständnis von Sprache vor, das sich zuletzt auf Mallarmé beziehen lässt und in Jacques Lacans seltsamer Signifikantentheorie ihre zeitgenössische Beglaubigung findet.

 

Was für andere bloß ein „Zeichen“ für Unlesbarkeit sein würde (und somit gar nicht agieren könnte), ist für Sollers und seine Genossen Ausweis äußerster Radikalität. Am fernen Horizont stünde der total kollektivierte Text ohne Autor, der in seiner Singularität immer neu und immer anders hervorgebracht würde. Hat man sich so die permanente Revolution vorgestellt? Mao Tse-tung: „Im unendlichen Strom der absoluten Wahrheit…“. In diesem Mao-Zitat taucht schon die andere, spätere China-Verbindung des Franzosen auf, die ganz klassisch sich auf Lao-Tses Tao bezieht. Im Grunde hat Politik Sollers ja auch nie interessiert. Wer auch nur einen Text von ihm angelesen hat, wird aufgefallen sein, dass Sollers kein Fürsprecher des Proletariats ist. Sein Maoismus ist vor allem ästhetisch motiviert. Und wenn auf einem der Sollerschen Buchdeckel ein chinesisches Ideogramm auftaucht (Lois, 1972), so mag der Autor („autreur“) das als „Kriegserklärung“ verstehen, weil man als Westler das Zeichen vermutlich nicht lesen kann.

 

Aber warum sollte das nicht nur ein ästhetisches Spiel sein, warum soll hinter einem unerlösten Signifikanten oder einem unverstandenen Ideogramm gleich der Hammer kreisen, der den Leser niederschlagen soll. Die Sollers’sche Welt ist im Grunde immer die gleiche kleine: ich und die anderen, oder wir und die anderen. Man vermisst die dritte Position (nicht die synthetische der Dialektik), die eines Beobachters von Beobachtern. Denn dann würde die Selbstbeschreibung der Avantgardeposition erst mal ganz einfach als eine solche stehen bleiben können, ohne dass damit gleich die präsumierten Wirkungen zu verbinden seien. Denn die wahre Kulturrevolution findet immer nur in der Literatur statt (in bestimmten, manchmal auch unbestimmten Literaturen), und es liegt dazu kein Programm vor, kann auch gar nicht vorliegen. Denn der Leserbezug steht nicht selbst schon im Programm drin. Genau diesen konstruktiven Aspekt baut Sollers von Produzentenseite in seine Texte ein: „… fabriquer quelque chose qui raconterait sa propre fabrication.“ Das erinnert an Selbstbeschreibungsversuche von Steve Reich hinsichtlich seiner Kompositionen. Die Texte und die Stücke mögen noch so sehr wie eine Maschine daherkommen, ob sie auch so wirken, ist eine ganz andere Frage. Und genau darüber täuscht sich Philippe Sollers bis heute.

 

Dieter Wenk (06-10)

 

Philippe Sollers: Pourquoi j’ai été chinois, in: Philippe Sollers, Improvisations, S. 75-113 (1980). Paris 1991 (Gallimard) ; zuerst erschienen in: Tel Quel 88, Sommer 1981, 11-30