5. Juli 2010

Modern Times

 

Fragen der Zuordnung lassen sich zweifach stellen: einmal positiv: Wie gelangen Informationen dahin, wo sie gebraucht werden; oder negativ: Wie lassen sich falsche Zuschreibungen wieder rückgängig machen. Bekanntlich gibt es keine Instrumente, um Gerüchte zu behandeln und ihre mehr oder weniger schädlichen Auswirkungen. Und manchen passen ja auch falsche Urteile, weil sie schmeicheln. So kann man heute immer noch Paraphrasen dessen hören, was Alfred Hentzen, einer der Mitarbeiter Ludwig Justis an der Nationalgalerie Berlin, 1919 anlässlich der Eröffnung des Kronprinzenpalais’, einer Filiale der Nationalgalerie, geschrieben hat: „Es war die erste öffentliche Kunstsammlung der Welt, die ausschließlich den Meistern der Gegenwart gewidmet war.“

 

Will man den Worten Peter Betthausens Glauben schenken, kommt dieses Urteil vielmehr der Neuen Pinakothek in München zu, die 1854 öffnete, mit einem, wie Betthausen schreibt, allerdings „starken bayerischen Akzent“. Schaut man sich zudem an, wann die ersten wirklich modernen Malereien entstanden, nämlich in den 1860er Jahren, und zwar in Paris, dann muss das Urteil Betthausens ein weiteres Mal relativiert werden: Die Revolutionen der Malerei wurden nicht gleich im Museum präsentiert. Aber die avancierten Museumsdirektoren, zumal in Deutschland, hatten es auch nicht einfach. Es war der Kaiser, der das letzte Wort in Museumsdingen für sich beanspruchte, und sein Geschmack ging einher mit den althergebrachten Positionen der Akademie. Ludwig Justi, dessen Weg der Autor hier nachzeichnet, war kein Berserker moderner Kunst. Er suchte eher ein gütliches Auskommen mit dem Kaiser, mit dem er immerhin noch ein paar Jahre zu tun hatte, bevor das Kaiserreich zusammenbrach.

 

Von 1909 bis 1933 war Justi Direktor der Nationalgalerie Berlin, die Nationalsozialisten suspendierten ihn und schickten ihn in die Kunstbibliothek, nach dem Zweiten Weltkrieg stieg Justi auf zum Generaldirektor der Staatlichen Museen Ost, wo er aufgrund seines letztlich doch sehr traditionellen Kunstverständnisses besser aufgehoben war als im Westen, der eher den Anschluss suchte zu den gängigen amerikanischen Positionen der Zeit. Auch die expressionistischen Künstler, hinter die er sich stellte, sah er durch die Brille seines klassizistischen Kunstverständnisses, nach dem der Wille zur Form alles sei. Legitimiert werden musste jeder moderne oder zeitgenössische Künstler, denn erst durch die Nobilitierung qua Anschlussfähigkeit an „germanische“ oder „nordische“ Kunst war ein Neuerer zu rechtfertigen.

 

Keine Frage, dass man Dadaisten und Surrealisten, aber auch russische Konstruktivisten oder westliche Abstraktionisten nicht im Bestand der Nationalgalerie der 1920er Jahre findet. Die wirklichen Auseinandersetzungen waren oftmals viel kleinteiliger und aus heutiger Perspektive kaum noch nachzuvollziehen wie zum Beispiel die Differenzen zwischen Erich Heckel und Ernst-Ludwig Kirchner bezüglich Figurendarstellungen und Landschaften. Wenn man sich die aktuelle Präsentation der klassischen Moderne in der Neuen Nationalgalerie unter dem Titel Modern Times anschaut, fallen einem mehrere Dinge auf: Zum einen die Etablierung einer „Schattengalerie“, Werke in Form von formatidentischen Fotografien der Werke, die sich nicht mehr im Besitz der Nationalgalerie befinden. Und, liest man das Kleingedruckte neben den Werken, kann man feststellen, dass die entscheidungsbefugten Nazis nicht generell die moderne Kunst, speziell den deutschen Expressionismus, ablehnten. Adolf Hitler hatte zwar im September 1933 sein endgültiges Urteil zur modernen Kunst gesprochen, aber noch Leute wie Goebbels oder Göring unterhielten ein durchaus ambivalentes Verständnis zu der Kunst, die dann spätestens 1937 als „entartet“ galt.

 

Dennoch: Göring ließ sich beispielsweise Franz Marcs Turm der blauen Pferde reservieren, das in München als Beispiel entarteter Kunst gezeigt worden war. In einem anderen System und unter einem anderen Titel („Formalismusstreit“) wurde die Realismusfrage ja dann noch einmal neu aufgerollt, auch von Justi in der entstehenden DDR. Peter Betthausen hat mit Schule des Sehens ein sehr überzeugendes und informatives Buch vorgestellt, das die Nationalgalerie und einen seiner wichtigsten Direktoren unter vier politischen Ordnungen vorstellt und die jeweiligen Konfliktlagen nachzeichnet sowie von Sternstunden zu berichten weiß. Peter Betthauen leitete 1985-1990 die Nationalgalerie (Ost).

 

Dieter Wenk (06-10)

 

Peter Betthausen, Schule des Sehens. Ludwig Justi und die Nationalgalerie, Berlin 2010 (Matthes & Seitz Berlin)

 

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