24. Juni 2010

La vie en rose

 

Eine reiche Fantasie ist etwas ganz Wunderbares. Aber gibt es auch so etwas wie eine intensive Fantasie? In dem Sinne, dass der Grad der Vorstellung dem Erlebnis wenn nicht gleichkäme, so doch ziemlich ähnlich wäre? Könnte man so etwas messen? Manchmal wüsste man einfach gerne, wie Leute auf Kunst reagieren (diesseits der Verbalisierung ex post), um zu sehen, ob zum Beispiel der Künstler sein Ziel erreicht hat, dem Besucher/Betrachter gehörig auf die Nerven zu gehen oder ihn in einen Schockzustand zu versetzen. Francis Bacon und Bruce Nauman artikulierten beide den Anspruch, mit ihrer Kunst direkt in das Nervensystem des Rezipienten einzudringen. Für einen Moment sollte er die Herrschaft über sich verlieren und in einen Zustand etwa der Hilflosigkeit oder der Orientierungslosigkeit versetzt werden.

 

Eine Frage, die die Künstler vermutlich nicht mehr beantworten können, ist die, was danach passiert. Sitzt der Schock tief, wie man so gerne sagt? Oder hat man gleich wieder ein Lächeln parat und konstatiert, dass die Welt immer noch die gleiche ist wie vorher? Im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart bietet sich zurzeit eine gute Gelegenheit, die Zumutungen des US-Amerikaners Bruce Nauman einer Überprüfung zu unterziehen. Obwohl wir ja eigentlich die Versuchskaninchen sein sollen. Aber natürlich kann man jederzeit die Befragung umdrehen und auch mal schauen, was ein Künstler wollte und was er, ein paar künstlerische Umbrüche später, immer noch zu bewirken vermag. Der eine oder andere Korridor wartet also darauf, begangen oder einfach auch nur (so weit das geht) eingesehen zu werden. Aber auch die eine oder andere Neonarbeit fordert eine gewisse gymnastische Fertigkeit ein.

 

Und dennoch, man muss es wohl so hart sagen, jeder Jahrmarkt bietet schärfere Munition, dass einem die Sinne vergehen. Um diese Erkenntnis vielleicht nicht gleich so herauszuhauen, gibt es Sekundärtexte, die die Naumanschen „Erfahrungsräume“ so einhegen, dass man auch nach der Erfahrung der Platzpatronenrealität guten Gewissens sagen kann, man habe gerade einen der radikalsten Künstler der Jetztzeit kennen und fürchten gelernt. So auch das Bruce Nauman Lesebuch, das extra zur Werkschau in Eigenregie des Hamburger-Bahnhof-Teams zusammengestellt wurde. Die unumgänglichen Begriffe des Naumanschen Oeuvres (etwa Clown, Folter, Kontrolle, Körper, Sprache, Stuhl, Überwachung und Zirkularität) werden in ca. zweiseitigen Kurzessays von den Kuratoren vorgestellt und dann mittels Auszügen aus weiterreichender Literatur in andere Zusammenhänge gestellt.

 

Immer wiederkehrende Autoren sind hier Elias Canetti (Masse und Macht), Michel Foucault, Gilles Deleuze, Hannah Arendt oder Sigmund Freud. Man könnte hier beinahe von simulierten, textuellen „Erfahrungsräumen“ sprechen. Hier prüfen sich Künstler und Autoren gegenseitig auf Stringenz und Virulenz. Alles nur weit hergeholt? Was ist der Unterschied zwischen dem Lesen eines Naumanschen Textes (die gibt es hier auch) und dem Realexerzitium der Clown-Tortures? Und wie stählt man das eigene Nervensystem vor der sicher zu erwartenden nächsten Attacke eines die Nähe des Terrors suchenden Künstlers? Dream Passage ist eine Reise wert.

 

Dieter Wenk (06-10)

 

Eugen Blume, Gabriele Knapstein, Catherine Nichols, Sonja Claser (Hg.), Bruce Nauman. Ein Lesebuch, 2010 DuMont Buchverlag und Staatliche Museen zu Berlin

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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