15. Juni 2010

Körperavantgarde

 

André Gide konnte sich den vollständigen Schreibakt nur so vorstellen, dass der Schreibende sich beim Schreiben zugleich zusah, nämlich mittels eines Spiegels. Das Experiment scheiterte jedoch, denn im Moment des Sich-Sehens vergisst man das Schreiben, und wer schreibt, sieht sich dabei nicht zu. Eine wesentlich erfolgversprechendere Methode des Kurzschlusses von Körper und Elaborat erfand der junge Pierre Guyotat unter dem Titel l’Autre main branle, also: Die andere Hand wichst. Und die „eine“? Schreibt. Diese ganz eigene und eigenartige Griffelkunst stellte Guyotat auf dem Kolloquium „Artaud/Bataille“ von Cerisy-la-Salle im Sommer 1972 vor. Nicht als Happening, sondern als Lesung, Langage du corps, als Text ein Jahr später veröffentlicht.

 

In Cerisy und speziell bei dieser Lesung stießen Avantgarde, verkörpert durch Guyotat, und das, was dieser mit dem Schmähwort „épigonat avant-gardiste“ bezeichnete, heftig aufeinander. Man wollte doch die Sexualität befreien. Zu Zweit, zu Dritt, zu Dutzenden, aber doch nicht alleine. Hier trat jemand auf, der auf 20 Seiten en détail seine avancierten und anspruchsvollen Masturbationspraktiken vorstellte, „comme retiré à l’intérieur de lui-même“ (Philippe Forest). Während also Gide noch nicht einmal in der Lage war, die eine Hand zu heben, so sehr war er von seinem Spiegelbild geplättet, vermag Guyotat beide Waffen zu ziehen und sich ihrer Ladung zu bedienen, bis beide Magazine leer sind.

 

Ein wenig erinnert diese Praxis an die Schreibergüsse der Surrealisten, die aber weniger an die aktivierte Libido gebunden waren, als dass sie das frei schwebende Unbewusste zu artikulieren suchten. Pierre Guyotat geht also einen Schritt weiter in Sachen automatisierter Unmittelbarkeit. Vielleicht ist es auch ein halb verzweifelter, halb lustvoller Versuch, alte alchimistische Praktiken zu reaktivieren und mithilfe der Übertragung der Sublimierungsanstrengung körpereigener Säfte eben aus Ejakulat eine Art poetische Quintessenz zu gewinnen. Die letzten Minuten der Lesung in Cerisy-la-Salle waren jedenfalls nicht der Lektüre dieses geistigen Elaborats gewidmet. Natürlich hätte man auch als späterer Leser von Langage du corps gerne mal eine Kostprobe geboten bekommen, es wäre vermutlich die Quintessenz dessen gewesen, was man das autobiografische Schreiben nennt. Langage du corps eröffnet das Korpus, das Pierre Guyotat unter dem Titel Vivre zusammengefasst hat und 1984 veröffentlichte. Aus der Zeit von 1972-1982 wählte der Autor 17 Texte (oder, wie Guyotat bevorzugt sagt: „Schriften“) aus, die unterschiedlichen Genres angehören: Interventionen, Interviews, destillierte Interviews, Explikationen, Kritiken. Sie alle teilen eine mehr oder weniger forcierte Schreib- und Sprechweise.

 

Dieser Mann, so will es am Ende der Lektüre von Vivre scheinen, ist ein einziges Experiment. Ein Experiment, das mit dem eigenen Körper, aber vor allem mit fremden Körpern als der Schrift unterzogenen durchgeführt wird. Deshalb war es auch falsch, Guyotat der Pornografie zu bezichtigen. Die durchaus zahllosen Obszönitäten, die sich in seinen Büchern finden, sind nicht dazu angetan, Lust zu stiften, sie verwandeln sich vielmehr „sur le coup de l’écrit“ in eine abstrahierte Wirklichkeit, in der die Sinne und die Sinnlichkeit verschwinden; genau damit vermag der Autor zu seiner kaum noch zu übertreffenden scheinbaren „Sprache des Körpers“ eine Distanz aufzubauen, aus der heraus er versucht, die Verhältnisse zu analysieren, in denen Körper erst zu eben diesen (obszönen) Körpern werden, nämlich kapitalistische Aneignungsprozesse in Form einer generalisierten „Prostitution“. Das hätte man vermutlich nicht gedacht, dass dieser Mann Kommunist ist (der allerdings 1972 die PC, wie einige andere auch, verlassen hat).

 

Wie kommt dieser „Einzige“ zu seinen Genossen? Zum Beispiel durch das Aufführenlassen eigener Theaterstücke wie Bond en avant, uraufgeführt 1973 in La Rochelle. Drei der fünf Akteure sprangen nach der Premiere ab. Es darf vermutet werden, dass die Berliner Volksbühne in Sachen Radikalität hier noch einiges lernen könnte. Aber welches Volk geht denn in die Volksbühne. Oder in Avantgardestücke. Unfreiwillig führt Guyotat vor, wie die beiden Königskinder, der Revolutionär und das Proletariat, nicht zusammenkommen können. Aber vielleicht hat ja Guyotats Entscheidung (zumindest für eine bestimmte Zeit), sexuell rein masturbatorisch tätig zu sein, eben den (beinah künstlerisch zu nennenden konzeptuellen) Sinn, eben den prostitutionellen Verhältnissen aus dem Weg zu gehen, die für die Kommerzialisierung des Körperaustauschs typisch sind. „Prostitution“ ist für Guyotat also kein bloßes Quartiersphänomen. Feinmaschig und zugleich grob initial legt sie sich über die Gesellschaft. Man entkommt ihr nur durch unerschrockene Kompromisslosigkeit.

 

Aber wohin soll die Reise sonst gehen? Das erfährt man aus seinen Texten nicht. Die zum Teil, wie Samora Machel, immer noch unveröffentlicht sind. Das Lesepublikum würde ein Epos erwarten, völlig a-psychologisch, monströs, von beispielloser Obszönität, voller Anspielungen auf Bibel (und Koran), von einem Bordell zum anderen. Es gibt Hinweise, die vermuten lassen, dass dieser Text nicht mehr zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht wird. Wie auch immer, Guyotat ist sich seines Wagnisses bewusst, er geht sogar noch weiter, indem er behauptet, dass es zurzeit wohl nur einen Autor gebe, der Texte von solch beispielloser Radikalität zu schreiben vermag, nämlich er selbst. Es lässt sich nicht leugnen, es geht in seinen Texten um so etwas wie Austreibung, vielleicht Teufelsaustreibung, vielleicht auch nur um die Wiederherstellung eines verlorenen Gleichgewichts des Körpers. Man ist geneigt, an die Humoralpathologie zu denken. Varianten des alten Aderlasses, Wiedereinführung der Klistierspritze mit anderen Mitteln. Das sexuelle Feld, so scheint es, ist der jüngste Fall des „Verblendungszusammenhangs“. In Erleuchtung dieses Zusammenhangs ist ein homöopathischer Autor angetreten. Man weiß nicht, ob man ihm viel Erfolg wünschen soll.

 

Kürzlich ist (nach Formation) ein weiterer autobiografischer Text Guyotats erschienen, Arrière-fond, in dem es vor allem um seine masturbatorischen Praktiken im Alter etwa von 15 Jahren geht. Für diesen Text und für sein Gesamtwerk ist der Autor jetzt mit dem Prix de la BNF (10.000 Euro) ausgezeichnet worden.

 

Dieter Wenk (05-10)

 

Pierre Guyotat, Vivre, Paris 2003 (Gallimard, 1984 Éditions Denoël)