2. Juni 2010

Heilen. Mit Pop oder „zweiter Natur“

 

Jonas Überohr? Hm. Hat dieser Name jemals nach etwas anderem geklungen als nach Sesamstraße oder der Sendung mit der Maus? Offensichtlich. Immerhin hat Helmut Salzinger freiwillig unter diesem Namen in den 1970er Jahren Plattenkritiken in der Musikzeitschrift Sounds lanciert. Bereits Mitte der 60er Jahre hatte Salzinger begonnen, die internationale Welt des Pop und Rock zu überfliegen. Publikationsorgane waren vor allem Zeitungen wie die Stuttgarter Zeitung, der Tagesspiegel oder Die ZEIT.

 

Er war nicht der allererste, aber einer der ersten Kritiker, die die Höhenkammkulturzonen verließen, um zu schauen, was in den niederen Bereichen so abging. Vergessen hat der promovierte Literaturwissenschaftler dabei sein Wissen nicht. Für den heutigen Zeitgenossen ist es wohl nicht leicht nachzuvollziehen, was es bedeutet haben mag, in den 60er Jahren nicht zum hundertsten Geburtstag von Arthur Schnitzler oder Gerhart Hauptmann zu schreiben, sondern ein paar kritische Worte zum siebten Album von Frank Zappa zu äußern. Oder die Kritikerpersönlichkeit vorzuführen, die schon damals eben nicht der letzte Schrei war, aber das letzte Wort für sich beanspruchte (MRR). Das Schöne an diesen Texten: Sie sind schnörkellos, argumentativ (das gibt’s sogar bei Plattenkritiken), sie stellen Sachen vor, die wirklich neu sind, und sie verzichten auf jeden Jargon. Salzinger bleibt also auf Distanz, auch wenn ihm die Dinge richtig gut gefallen.

 

Zu diesen Texten gibt es auch ein Nachwort, das sehr erhellend ist und von Frank Schäfer stammt. Man muss es unbedingt lesen. Denn, ob das Schäfer das so klar war oder nicht, das Nachwort stellt einen Salzinger vor, den der Salzinger dieser Textauswahl nicht erreicht. Zum Beispiel in Sachen Radikalität. Zum Bruch mit dem Wochenblatt DIE ZEIT kam es beispielsweise aufgrund eines Artikels Salzingers aus dem Jahr 1970, in dem er sich für Bootleg-Methoden stark machte. In der hier vorgestellten Auswahl firmiert aber ein Text Salzingers, in dem er sich gegen Raubpressungen ausspricht (so heißt es am Ende dieses Artikels, der in der Frankfurter Rundschau erschien: „Mit gutem Grund hat Rolling Stone die Hersteller der Raubplatten ,neue Kapitalisten’ geschimpft.“). Überhaupt scheint Pop nicht der Wunschkandidat für viel versprechende gesellschaftliche Veränderungen zu sein. So resümiert Salzinger das Verhalten der Besucher eines groß angelegten Popfestivals auf der Insel Fehmarn im Jahr 1970, bei dem so ziemlich alles schief ging, was nur schief gehen konnte, und die Besucher das alles wie vom Himmel geschickt brav hinnahmen, ohne den Veranstaltern auch nur eine Gebärde des Verdrusses hinterherzuschicken, folgendermaßen: „Pop und falsches Bewusstsein sind Synonyme.“

 

Eine nicht ganz unbedeutende Erbschaft erlaubte Salzinger, sich komplett aus der gegenkulturellen Fürsprache zurückzuziehen und ein ökologisch fokussiertes Dasein zu zimmern. Eine harsche Zivilisationskritik deutete sich schon in einigen der von ihm in Zeitungen und Zeitschriften publizierten Artikeln an oder in solchen, die in Buchform erschienen, etwa in Litritscher. Über akustische Literatur oder in Objektiv? Objektiv ist der Krebs. Hier lassen Thoreau und Rousseau grüßen und die Versprechungen einer angeblich „zweiten Natur“. Es sind die Anfänge einer ökologisch inspirierten Gegenkultur.

 

Im Überblick betrachtet sind die verschiedenen Artikel aus dem Zeitraum von 1966-1982 sehr facettenreich und bieten zudem eine kleine Geschichte der Hoffnungsinvestition und des -entzugs. Die Beobachtung solcher zeitlicher Bögen ist natürlich nicht ganz unspannend.

 

Dieter Wenk (05-10)

 

Helmut Salzinger, Best of Jonas Überohr. Popkritik 1966-1982, hg. von Frank Schäfer, Hamburg 2010 (Philo Fine Arts), Fundus 187

 

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