13. Mai 2010

Berliner Rundschau

 

Wer dieser Tage in der Berlinischen Galerie herumspaziert, wird vielleicht irgendwann vor einer Tür (es gibt noch eine davon) stehen bleiben und sich fragen, was das soll. Nicht, dass man sich diese Frage nicht auch vor zahlreichen anderen Kunstwerken stellen kann und soll. Nur liest man auf der Tür etwas, eine Art Aufforderung, die auf keine Art in Handlung umgesetzt werden kann: „Zugang“. Der Türgriff lässt sich nicht bewegen, dahinter steht direkt die Mauer. Und überhaupt: Zugang zu was? Ähnlich verwundert würde der Spaziergänger Giwi Margwelaschwili gewesen sein, wenn er auf einem Stück Mauer in Berlin eben nicht die bekannte Parole „Ausländer raus!“, sondern umgekehrt „Ausländer rein!“ gelesen haben würde. Für den in Berlin geborenen Margwelaschwili hätte diese Parole „etwas Überindividuelles“, sodass er sich nicht fragt, wer, sonder was das sagt: „Die Forderung ,Ausländer rein!’, der sich Regierungen beugen müssen, ob sie wollen oder nicht, ist etwas Überindividuelles. Sie liegt im kapitalistischen Wirtschaftssystem beschlossen, in dem wir alle leben und das sich – geben wir es zu – im Vergleich zu den zwei anderen Wirtschaftsexperimenten im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts als weitaus lebensfähiger erwiesen hat.“

 

Während des Zweiten Weltkriegs strahlte die BBC eine Sendung aus, die unter dem Titel Der verwunderte Zeitungsleser den in Deutschland Lebenden ein paar Korrekturen an die Hand geben wollte: Hier wurde die NS-Presse „analysiert und kritisiert“ und immerhin die Möglichkeit gegeben, nicht alles für bare Münze zu nehmen, was die deutsche Propaganda anheim stellte. Ein bisschen in dieser Funktion ist auch Giwi Margwelaschwili unterwegs. Sein Beobachtungsfeld sind die Rassismen, aber auch die Didaktismen, die sich überall auf den Mauern und Häusern Berlins finden. So ist sein Essay über Graffiti aufgeteilt in „Die ontologisch eindeutigen und mehrdeutigen oder kontrapunktischen Beschriftungen“ (z.B.: „Berlin muss deutsch bleiben“, „Raus fascist Turken“) und „Die didaktischen Mauerinschriften“ (etwa: „Kein Mensch ist illegal“, „soft resistance“ oder „Jetzt hilft uns nur noch Musik.“) Über jede dieser Parolen macht sich der Autor so seine Gedanken, auf eine ganz und gar entspannte Weise. Und mit einem Vokabular, das der Giwi-Margwelaschwili-Liebhaber ungern vermissen würde, so seltsam und schön sind die Ausdrücke, und natürlich auch nicht ganz unironisch in eigener Sache.

 

Es heideggert also hier und da, aber eher auf eine lustige Art; so kann man also wieder von der „ontotextuellen Verfassung des Menschen“ lesen, vom „Textweltmenschen“, der in einer „ontokontextologisch geprüften Zeit“ lebe und von Manu-Mauerskripten (bzw. Mauer-Manuskripten), die „antikontextologisch“ ausgerichtet sind. Giwi Margwelaschwili kümmert sich wenig um die Ästhetik der Schrift oder der Schriftzüge und er fragt sich auch nicht, ob das, was man da auf den Mauern liest, schön oder hässlich sei. Die Frage wird man beantworten, wie man will, die Parolen bleiben und kommen wieder oder nach. Den Essay Margwelaschwilis begleiten Fotografien von Alexander Janetzko.

 

Dieter Wenk (05-10)

 

Giwi Margwelaschwili, Der Verwunderte Mauerzeitungsleser. Essay. Mit Fotografien von Alexander Janetzko, Berlin 2010 (Verbrecher)

 

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