8. Mai 2010

Von der Unmöglichkeit zu verlieren

 

Mao Tse-tung war ein eifriger Leser und Kommentator der „Dreizehn Kapitel“, eben jener Kunst des Krieges, die in China seit ihrer Entstehung im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ungemein wirkmächtig war und, wie das Beispiel Maos zeigt, immer noch ist. Zumindest im ostasiatischen Raum, Japan eingeschlossen, auch wenn die Japaner nicht richtig Kapital aus den klugen Sätzen der Schrift gezogen haben, wie der Verlauf des Zweiten Weltkriegs beweist. In Europa wird man erst in der Zeit der Aufklärung auf Sun Tzu, dessen Leben nicht hundertprozentig verbürgt ist, aufmerksam, die erste Übersetzung erscheint Ende des 18. Jahrhunderts in Paris. Erst 1910 werden die „Dreizehn Kapitel“ unter dem effektheischenden Titel Das Buch vom Kriege – der Militärklassiker der Chinesen von Bruno Navarra übersetzt einem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung gestellt.

 

Vermutlich hat keiner der militärisch Verantwortlichen im Ersten und Zweiten Weltkrieg in Deutschland dieses Buch zur Kenntnis genommen. Vielleicht gab es ja gute Gründe dafür? Immerhin sind die Betrachtungen schon beinahe 25 Jahrhunderte alt. Das modernste, was man damals in China in Sachen Waffentechnik kannte, waren Armbrustschützen, und die betraten sogar erst nach Sun Tzu kriegerischen Boden, erst die späteren Kommentatoren und Koautoren erwähnen sie. Was könnte und sollte man also aufgrund einer völlig anderen militärischen Ausgangssituation allein in Form der Waffen, der mit ihnen zu erreichenden Schnelligkeit, mit den sicher wohl gemeinten Aphorismen anfangen.

 

Allein dass ein kluger und mit allen Wassern des Partisanenkriegs gewaschener Kopf wie Mao Tse-tung auf Sun Tzu zurückgreift, sollte vorsichtig stimmen. Was ist das überhaupt für eine Schrift, die bei Befolgung der Ratschläge den Sieg nicht nur verspricht, sondern für unausweichlich hält. Hier schien sich jemand sehr sicher zu sein bei der Art und Weise, wie man Krieg zu führen hat. Dass man es allerdings nicht mit einem Großmaul oder Scharlatan zu tun hat, beweisen die einzelnen Sätze und Kapitel, die nichts von ihrer Klarheit und Rigorosität verloren haben. Sun Tzu gibt keine Empfehlungen ein für allemal. Eben davor hütet er sich. Immer wieder heißt es: „Es gibt keine fixe Regel“. Diese Kriegsfibel ist abstrakt auf eine sehr nachvollziehbare Art: Es werden Bedingungen genannt, die bei jeder Kampfeshandlung zu berücksichtigen sind (Größe der eigenen und der gegnerischen Truppen, Territorium, klimatische Verhältnisse, die konkrete physische und geistige Verfassung des Gegners, seine aktuellen Allianzen etc.) und es werden, wie bei einem Algorithmus, die Konsequenzen aus den jeweiligen Veränderungen gezogen.

 

Die Positivitäten, die sich bei der Analyse ergeben (vor allem hinsichtlich des unterstellten Wissens des Gegners) werden konsequent in ihr Gegenteil verkehrt: Die Kunst des Krieges ist ein Lehrbuch der Simulation und der Dissimulation, lange vor der postmodernen Wende wird die sogenannte Wirklichkeit zu einer anderen umfunktioniert, an die der Gegner glauben soll. Wenn das auf allen Ebenen gelingt, wenn der Gegner in der Tat all das glaubt, was man ihn glauben lässt (unter anderem unter dem systematischen Einsatz von Spionen und Doppelagenten), wird der Feind bereits geschlagen sein, bevor die erste Armbrust in Anschlag gebracht wurde. Die volle Berücksichtigung dieser Kriegskunst würde den wirklichen Krieg abschaffen. Auf jeden Fall liegt mit diesen Kapiteln keine Anleitung zum „Totalen Krieg“ vor, der in Deutschland in Clausewitz seinen ersten Verfechter fand. Die vielleicht wichtigste Kategorie bei Sun Tzu ist die der „Situation“; es sei unmöglich, so der Autor, den Verlauf des Kriegs im Vorhinein planen zu wollen. Der leitende General muss in der Lage sein, jedes neue Element (topografisch, meteorologisch, moralisch etc.) in die Situation zu integrieren und Taktik und Strategie neu auszurichten. Wer den Gegner unterschätzt, wird unterliegen, wer arrogant auftritt, kennt die Situation nicht, ein Choleriker lässt sich zu leicht provozieren, ein Phlegmatiker kann sich nicht entscheiden. Dieser Kopf eines Generals muss präzise arbeiten wie eine Maschine und manchmal auch die Anweisungen des Kaisers in den Wind schlagen.

 

Mit Sun Tzu beginnt eine Zeit der nicht erklärten Kriege. Wer nicht zu überraschen vermag, ist selbst schuld. Wer den Vorteil der Situation nicht nutzt, wird verlieren. Noch Mao Tse-tung argumentierte immer wieder mit der stehenden Redewendung: „Wir sind nicht der Herzog von Sung“, um darauf hinzuweisen, dass ein angeblich nobles und ritterliches Verhalten höchst gefährlich sein kann: Der Gegner darf nicht erst bequem Stellung bezogen haben, er muss vorher attackiert werden, wenn er nicht damit rechnet. Es wäre sicher etwas forciert, Sun Tzu den Vater des „asymmetrischen Kriegs“ zu nennen, in dem Sinn zumindest, wie er heute gebräuchlich ist. Die asymmetrisierenden Tendenzen liegen bei Sun Tzu ganz auf dem Feld der Simulation und Dissimulation. Sun Tzus General lässt den Gegner einen Unterschied zu Grunde legen, der nur gespielt ist, aus groß wird klein, aus schwach stark, aus Unbeweglichkeit äußerste Beweglichkeit. Im besten Fall mischt er die Karten und spielt ebenso die Karten des Gegners aus, der glaubt, die Karten selbst zu verteilen. Diese Kriegskunst ist – göttlich.

 

Dieter Wenk (05-10)

 

Sun Tzu, L’art de la guerre, traduit de l’anglais par Francis Wang, Paris 2008 (Flammarion)