6. Mai 2010

Vertrackte Spurensuche

 

Diese Habilitationsschrift richtet sich – abgesehen vom Prüfungskomitee – an die Extremisten unter den Fotografieamateuren. Wer auch nur eines der sechs sehr einlässigen Kapitel zur Fotografie vor allem zum Ende des 19. Jahrhunderts gelesen hat, wird nie mehr das Foto mit der Wirklichkeit (wie einst Roland Barthes und seine nostalgischen Jünger) noch mit den fatalen Konsequenzen des radikalen Konstruktivismus verwechseln, nach dem das, was auf einem Foto zu sehen ist, nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, von der man gar nichts wissen könne; (der radikale Konstruktivismus kann jedoch nur darlegen, warum das so ist, nicht, dass es wirklich so ist, denn dann müsste er eben die andere Seite kennen).

 

Als in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die Elektroenzephalografie entwickelt und als Messverfahren in die Medizin eingeführt wurde, waren anfangs große Erwartungen mit ihr verbunden, die auch heute noch heiße Science-Fiction-Ware darstellen, die Annahme nämlich, mittels dieses Verfahrens die Gedanken der Versuchsperson oder des Patienten lesen zu können. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts jedoch wurden Schritte unternommen, an die Gedankeninhalte von Personen zu kommen, ohne dass diese auch nur den Mund aufmachen mussten. Die aus dem Bereich der „okkulten Fotografie“ stammenden, ziemlich krude anmutenden Experimente sahen vor, den Probanden fotografische Platten vor die Stirn zu binden, worauf diese dann entwickelt wurden; in den entsprechenden Spuren versuchte der Experimentator dann, „die Gedankeninhalte seiner Probanden zu entziffern“.

 

Peter Geimers Beispiele kommen wie schon erwähnt nicht aus der cleanen Welt der analogen Fotografie unserer Tage oder aus der Zauberwelt des Digitalen. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts, und das zeigen die zahlreichen Abbildungen dieses Bandes sehr anschaulich, war man technisch noch nicht so weit, glasklar zwischen dem referenziellen Bezug und der Eigenlogik des Materials, der Entwicklung und dem Eigenleben der Fixierung unterscheiden zu können. Auf der anderen Seite glaubte man, durch die Fähigkeit der Fotografie, „Unsichtbares“ sichtbar machen zu können, einen Standard etablieren zu können, demgegenüber das menschliche Auge nur verlieren konnte. Die verführerische Rede vom „Kameraauge“ hat sich ja bis weit ins 20. Jahrhunderts hinein erstreckt, sowohl Nouvelle Vague als auch Nouveau Roman, beispielsweise, glaubten, damit Überbietungsstrategien vorstellen zu können.

 

Peter Geimer erteilt solchen direkten Fortsetzungen menschlicher Fähigkeiten (oder besser: dem Ausbügeln menschlicher Unfähigkeiten) eine klare Absage. Der technische Apparat sieht nicht, er entwickelt auch keinen menschenähnlichen Blick. Er zeichnet auf und gibt dieses dann zu sehen. Was dann daraus gemacht wird (durch ein menschliches Hirn), ist nicht mehr Sache des Apparats selbst. Eine Fotografie des sogenannten „Turiner Grabtuchs“ macht auch nicht evident, ob es sich bei den Formen, die sich darauf ablesen lassen, um Jesus Christus handelt oder um ein Zufallsprodukt welcher Herkunft auch immer. Das spekulative Moment gerade in dieser Zeit der Fotografie lässt sich aus ihr nicht verbannen. Der direkte Zugang zur Wirklichkeit bleibt verstellt. Es ist aber auch nicht nichts zu sehen, sondern eben etwas, nur was eben dieses „Etwas“ ist, ist der Punkt. Peter Geimer hat ein wissenschaftlich überzeugendes und zugleich fesselndes Buch geschrieben über die Bereitwilligkeit noch der Hardcore-Fraktion der Positivisten, sich täuschen zu lassen über die Reichweite dessen, was man fälschlicherweise Positivität nennt. Oder von der anderen Seite her formuliert: Peter Geimer vermag zu zeigen, dass „kein Widerspruch besteht zwischen der ,Künstlichkeit’ und ,Gemachtheit’ eines Bildes und seiner positiven Funktion als Agent des Wissens.“ Willkommen in der die Widersprüche auflösenden Mitte.

 

Dieter Wenk (04-10)

 

Peter Geimer, Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010 (Philo Fine Arts, Fundus 178)

 

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