20. März 2010

Leben nehmen

 

Wenn man bereit ist anzunehmen, das Gute, Gutes überhaupt könne hervorgerufen, also durch bestimmte Handlungen bewirkt werden, spräche nichts dagegen, eine solche Produktion auch für die andere Seite zu postulieren, also für das moralisch Schlechte oder Böse. Denn dem rationalen Mechanismus, der dahinter steht, ist es gleichgültig, für wen er läuft. Nur ist das rationale Moment, zumal auf der Seite des Guten, nicht das, was im Vordergrund steht oder stehen soll, denn paradoxerweise ist jenes ja gerade mit einem Glauben verbunden. Das Böse hat dagegen die Tendenz, den nackten Mechanismus zu zeigen, der vielleicht sogar mit einem eleganten Procedere aufwartet und damit für die fatalen Wirkungen entschädigt, die mit dem Produkt verbunden sind.

 

Es ist wohl kein Zufall, dass just in dem Moment eine solche Versuchsanordnung (die bewusste Produktion einer bösen Handlung) zumindest konzipiert wurde, als die Welt in der Kybernetik eine viel versprechende Methode von durchschlagenden Verfahrensanordnungen erblickte. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts also machten sich die Mitglieder der „Wiener Gruppe“ Gedanken darüber, ob es möglich sei, nicht einfach jemanden umzubringen (dafür braucht es keine Kybernetik), sondern jemanden von sich aus in den Selbstmord zu treiben. In einem Verbund von solchen Anfangsüberlegungen und späteren Ereignissen im Zusammenhang mit der Wiener Gruppe (der Selbstmord Konrad Bayers 1964) brachte 1969 der Grazer Wolfgang Bauer in dem Stück Change das Scheitern eines kybernetischen Kunstwerks, an dessen Ende eben der Selbstmord einer bestimmten Person gestanden hätte, auf die Bühne.

 

Die Kybernetik spielt allerdings in diesem Stück kaum noch eine Rolle. Bauer versetzt das Geschehen in Richtung Kunstmarktstruktur und der Bewertung von Kunstproduktion als Ablenkungsmanöver. Auch der amerikanische Autor Norman Mailer lässt in seinem „Hirschpark“ Selbstmordinduktionsfantasien hegen. Sie stehen jedoch nicht im Mittelpunkt des Romans und betreffen eine Person, die eine ähnlich unüberwältigende bisherige Lebensleistung vorzuweisen hat wie Bauers Dichter Fery, der einen Provinzmaler dazu bringen will, sich umzubringen und sich am Ende selbst das Leben nimmt. Bei Mailer ist es der Zuhälter Marion Faye, der durchaus gebildet ist, aber nichts aus sich gemacht hat. Trotzdem oder gerade deshalb lesen sich die nicht sehr zahlreichen Dialoge, die ihm gewidmet sind, wie grandiose Begleitungen ins zynische Zentrum der Welt. Natürlich nimmt Marion auch Drogen, und in diesem Zusammenhang – also im Drogenrausch – drängt sich ihm ein diabolischer Befehl auf, seine Lebensabschnittspartnerin in den Selbstmord zu treiben: „Dann, wenn sie zurücksanken, wenn ein letztes versinkendes Bild der Verdammnis ihn über den Augenblick der Leere hinwegtrug, wandte er sich Schlaf suchend von Elena ab, während die Gedanken bohrend bis in den Kern seines Entsetzens drangen: er musste Elena zum Selbstmord bringen.“

 

Wenn man will: ein gnostischer Drogenunfall. Es gibt einen Moment, in dem im Folgenden Marion diesen Gedanken im nüchternen Wachzustand noch einmal prüft und schätzt, aber letztlich scheint es hier nicht um eine Demonstration im Sinne der Österreicher zu gehen. Irgendwann fahren die beiden Auto, Marion soll Elena zum Flughafen nach Hollywood bringen. Ein Unfall ereignet sich. Bewusster Mord/Selbstmord Marions, der das Auto bei einem Überholmanöver nicht mehr schnell genug auf die rechte Seite zu bringen weiß und sich und Elena opfert? Ein Kompromiss zwischen eigener Lebensabrechnung und der Möglichkeit, Elena doch noch umzubringen, nur eben anders? Beide überleben, und beider Geschichte ein nettes Ornament in dem Sinne, wie Mailer ganz zu Beginn des Romans den Spielort Desert D’Or beschreibt, „vollkommen modern“, und doch mit wie vielen Ornamenten durchsetzt?

 

Dieter Wenk (03-10)