7. März 2010

»Schwarze Pyramide, Ameisen und Hasardeure«

 

Eröffnung: Donnerstag, 18. März 2010, 19 Uhr
Ausstellung: 19. bis 28. März 2010
Mo—Fr 16—19 Uhr | Sa+So 12—16 Uhr

 

Eine Begegnung zweier Künstler aus der gleichen Stadt — Berlin — aber aus unterschiedlichen, sich fremden Kulturkreisen über das Medium Papier- und Film-Collagen.

 

Misha Shenbrot zur Ausstellung im Westwerk
im März 2010

Im Sommer 1942 wurde das Wohnhaus in der Calle Garay abgerissen. Mit seiner 19. Kellertreppenstufe verschwand auch das Aleph, der Ort, an dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte des Erdenrunds sind, von allen Ecken aus gesehen.

Später begriff ich, dass die Schwindel machende Fülle dessen, was sichtbar war, wie die Scheibe eines Spiegels eine Unendlichkeit von Dingen war, weil ich sie aus allen Ecken des Universums anschaute … ich sah ein silbriges Spinnennetz inmitten einer schwarzen Pyramide, ich sah ein aufgebrochenes Labyrinth … ich sah alle Spiegel des Planeten, doch reflektierte mich keiner. Was meine Augen schauten, war simultan …

Im März 2010 wird dieses faszinierende Phänomen im Westwerk in den papiernen Bildern und Projektionen von Misha Shenbrot wieder in Erscheinung treten, wird das Aleph wieder auftauchen.

Alle Lampen und Leuchten, Quellen des Lichts werden im Westwerk versammelt sein! 

Jorge Luis Borges (1899—1986)

Misha Shenbrot

 

 

Mathias Deutsch zur Ausstellung im Westwerk
im März 2010

… Nehmen das Skalpell und holen uns die Kontinente näher heran, schneiden ein Stück Meer heraus und setzen es an anderer Stelle wieder ein und trennen dadurch Welten. Mitten im Dschungel glühen plötzlich Kronleuchter auf. Es ist Nacht und ein goldener Mond wird ausradiert, gebleicht und umgehängt in die afrikanischen Savannen. …Im Nachmittagsschlaf hingemäht eine ganze Bauern- und Erntengesellschaft, einem Schnitter lauschend, verwandelt in einfache Holzkreuze, und die Waldung, die im Hintergrund wartet ist schon hingemäht von einem Asteroiden mit Schweif aus Wasser und Gummi Arabicum. … Vom Klu Klux Klan bemalte Neger — oder sind es Egerländer Volksmusikanten? — spießen ihrerseits mittelalterliche Putten vom fahlen Himmel auf. Eine einzelne Hand, die aus dem Meer ragt, kann das alles aber nicht sehen. … Aphrodite unter der lampenschwarzen Sonne nimmt sich eines fremden Stammes an. Mit Kauderwelsch gefüllte Heißluftballons schweben und lassen Fürze in den eddinghaften Morgennebel. … Auf der anderen Seite des neu gestalteten Globus kommt eine Flotte mit suprematistischen Geheimwaffen zurück in die nördliche Hemisphäre, wo die Surfer schon auf ihren Boards warten, um auf einer lackierten Welle ungeheuren Ausmaßes auf den Strand zuzurasen. Männer und Frauen mit tätowierten schwarzen Quadraten, auf Adrenalin und Malevitsch. …Elefanten wird der Stoßzahn ausgerissen und vom Wilderer fortgeschleppt, damit sich aus kürbisgroßen Nasenlöchern die Rotze ausschaben lässt. … Eine winzige Eule zittert in der Hand eines Jungen und überall sprießen, strahlen aus dem geborgten Bildraum. … Blaue Kugel in der Hand – eine reine Ozeanwelt — Vogel auf der Schulter. Die Stirn eine Abschussrampe in ein anderes persönliches Universum aus Teer und Federn. … Was die Augen nicht sehen, müssen die Brüste ertasten. Die Blicke zu den Ahnen sind Schnüre, an denen Ameisen sich entlang hangeln. … Die Hüte der Hasardeure schwimmen den Fluss hinunter. In London starrt der tote Henry James auf ein Gemälde neueren Ursprungs. …Auf der ganzen Welt werden Menschen aufgeknüpft, die es noch nicht einmal aus ihren Pyjamas geschafft haben. … Den falschen Engeln in ihren Heimatikonen sind die schönsten Bärte und Hautkrankheiten angeklebt. Einer geht ins Wasser, da jemand dafür einen schönen und sonnigen Tag erfunden hat. … Der erste Orgasmus im Gehirn eines kleinen Jungen ergoss sich über eine nach Rosenwasser duftende Stewardess, mit schönem, streng gekämmtem Haar, als sie sich über ihn beugt mit Spielzeug und Schokolade. … Im äthiopischen Hochland nehmen die Menschen Motten und Falter und lassen sie an Schnüren hoch in die Luft gleiten. Das Gleiche passiert in den Anden. … Und Mutterliebe ist überall zu Hause. Und Narzissmus ist überall zu Hause. Und Ostern und der Blick auf die gefüllten Nester. Und Kraniche, die in den warmen Aufwinden schlafen. … Und Peary der Polarreisende, inmitten eines Harems aus Pinguinen und Inuitfrauen. Pelz gewendet, unberechenbar und eitel. Mit einem eisernen Kreuz in seiner Brust.

Mathias Deutsch

 

 

Misha Shenbrot, geboren, aufgewachsen und als Künstler ausgebildet in Russland, erforscht das weggeworfene Kulturgut seiner Fremde — Berlin —, erfindet eine rhythmisierte, fließend-musische Bildsprache als engmaschig visuelle Gedichte zwischen der Borges’schen Freiheit der Imagination und der Versklavung der Banalität. 

Mathias Deutsch, geboren in Deutschland, aber aufgewachsen in Ghana und Portugal, hat auf Reisen durch verschiedene Länder (Mexiko, Guatemala, Brasilien, Spanien, Ghana, Nordafrika) den Alltag beobachtet und scheinbar »primitives« Kulturtreibgut gesammelt, um von seiner Fremde zu berichten, und vom blasphemischen Witz der Globalisierung. 

Beide Künstler verfahren sehr verschieden, sowohl in ihrer Technik als in der Optik ihrer Arbeiten, generieren aber einen spannenden Dialog im sonst recht vernachlässigten Medium Collage. Das lyrische Recycling ihrer gefundenen Materialien schafft eine erstaunlich frische Bildsprache, einen surrealen und bissigen Pidgin-Kommentar zum Thema Bilderflut und Kulturpsyche.