3. März 2010

Unfertiges Readymade

 

Der Film »Herzen« von Alain Resnais eröffnet gleich zu Beginn mit einer Fragestellung, die eine ähnliche Problematik aufwirft wie Ursula Panhans-Bühler in ihrem Buch. Wie wirkt es sich auf praktische Erkenntnis aus, wenn ein paradoxales Moment räumlich installiert ist? Das Zimmer einer Zweizimmerwohnung – hier sozusagen epistemologisches Instrument – ist geteilt, sodass das eine Fenster in beiden so entstandenen Räumen entweder offen oder geschlossen ist. Nicht gerade das, was Duchamps Darbietung einer zugleich geöffneten und geschlossenen Tür war, die als eine Art Vorarbeit gelten kann für den Flaschentrockner, der in Wahrheit das in 3D erscheinende Objekt der vierten Dimension ist. Denn das Fenster ist ja nun offen oder geschlossen und nicht beides zugleich, es ist eindeutig; jedenfalls nicht so offen wie die Gestalt des Flaschentrockners, der doch auch geschlossen ist, in seiner Form.

Kompliziert. Doch für die Bewohner der beiden Räume, die sich durch die Wand getrennt sehen, ist das mit dem Fenster so oder so ein großer Unterschied. Entweder sie erfrieren beide oder sie ersticken, beides sicher nur im übertragenen Sinn. Streng genommen ist also nicht die Installation Kernproblem und Gegenstand, sondern die beziehungsvolle Umgehensweise damit. Dies alles nur als ersten Hinweis auf das, was Ursula Panhans-Bühler vorführt, wenn sie in ihrer nun erschienenen Habilitationsschrift (vor bereits über 14 Jahren verfasst) Duchamps Flaschentrockner und Weiteres von ihm scheinbar (!) überdeutet, überinterpretiert, überschreibt.

 

Man muss zum Verständnis vielleicht kurz auf Panhans-Bühlers Herangehensweise eingehen, die genau genommen keine Herangehensweise ist, keine Methode. Eher eine »science-vivre«, oder in besserem Französisch eine »science de vivre«. Sie ist schon gar keine Life Science, aber auch keine science de l’art, also keine Kunstwissenschaft, wogegen sie sich im laufenden Betrieb der Hochschule verwehrte. Kunst kann man demnach, so müsste man aus ihrer Einstellung schließen, nicht positivistisch naturwissenschaftlich wissen. Man kann sie geschichtlich erzählen (ein Standpunkt, dem ich nicht bedingungslos folgen würde), also wiederum, gerade in Anbetracht ihrer historischen Gewordenheit, nicht nur geschichtlich erfassen. Das verbindet sich aber ganz und gar nicht mit Nichtwissen oder Pseudogeisteswissenschaft, obwohl diese Verbindungen da sind. Nur diese Verbindungen werden nicht voll bestätigt, höchstens die Trennung in Wissenschaften und Geisteswissenschaften, und selbst diese ist Kunst nicht heilig – nicht erst seitdem die Schering-Stiftung auch Parabolflüge für ein paar Videoaufnahmen bezahlt, die Celebrity mal geschenkt[1]. Die Angelegenheit ist, gefährlich genug, keine der klaren Absetzung in Rationalität und Mystik, da die Demystifikation sich mit der Mystik gut auskennen muss. Und es kann sein, dass die rationale Sprache über die Dinge als ihr Medium mehr mystifiziert, als sie damit selbstreflexiv herausrückt. Schließlich wird aber doch eine nachvollziehbare und nicht nur behauptete Position herauskommen, meint man. Ja, kann man antworten, aber nicht unbedingt bei der Autorin. Lesen ist schließlich keine Reproduktion. Womit man mitten im Gegenstand (oder beim?) des Buches wäre. Das Buch oder genauer sein Inhalt wird nämlich selbst zum Gegenstand gemacht. Und damit legt Ursula Panhans-Bühler das Allwissende Szientistische ab, indem sie das Objekt, das wir schon zu haben glauben, ikonografistisch neu und immer wieder rotierend neu reflektierend verzählt. Indem sie also die Verwissenschaftlichung ernst nimmt. Die »Freiheit der Indifferenz« als zu bearbeitendes Item ist nur zu haben, wenn man sich ihr stellt. Ob dies eher mutmaßliche Freiheit ist, bleibt abzuwarten.

 

Verzählen meint nun nicht, dass der Endbetrag nicht stimmte, es ist ja noch nicht einmal die exakte Ausgangssumme bekannt. Daher muss erst einmal alles zusammengezählt werden, was Duchamps Unterlaufen des ihm bekannten Geschäfts so mit sich bringt. Was alles an Artefakten wie aufgeladen wurde, was auf welche Weise seine Apparence, seinen Anschein und sein Aussehen findet. Die Kunstgeschichte als narratives Wissen in ihrer Vermittlung wird diese darzustellen haben.

 

Nach Hans Heinz Holz wäre die Fertigware in den ästhetisierenden Zusammenhang der Kunstausstellung geholt die zum Kunstfetisch gewordene Ware, die auf nichts anderes mehr als ihren Besitz als Bedeutungsebene hinweist. Damien Hirsts Diamantenschädel und dessen Käufer (die sogar um Preisnachlässe betteln) scheinen das zu bestätigen. Dennoch spricht Holz, und das kann man nicht am Diamantenschädel, sondern nur in seinem Kontext erkennen, dem fertigen Objekt ja auch eine Verdinglichungsebene zu, die nicht voll im Fetisch aufgeht. Diese ist weder voll gegeben noch gesetzt. Verdinglichung hält ja immer den Rest eines Sinns, der noch nicht verdinglicht wurde. Oder anders: Jedes materielle Ding, industriell oder nicht, bedingt nun mal Sinn. Nonsense ist davon nur die Unterkategorie. Nichts geht vom modernen Fetischobjekt aus, alles wird an ihm gesehen. Es bekommt einen Selbstständigkeitscharakter, der seine Dinghaftigkeit gerade durch den gewussten Kult – Panhans-Bühler spricht mit Duchamp vom Cargo-Kult – verschleiert bekommt. Das wird dann ästhetisch genossen. Jedes Readymade im Feld der Kunst ist daher unfertig und wird nur dann zur Waren-Ware, heißt zur Ware mit absoluter Warenfunktion, dessen Gebrauchswert es ist, eben Ware zu sein, durch die Norm des Betriebs. Oder zirkelhaft ausgedrückt: Nur an der Ware kann die Warenwelt sich zeigen. Das alles sind keine neuen Erkenntnisse. Nur so viel, Duchamp brauchte diese Norm für seine Subversion oder genauer, er hat sie mitgemacht und somit zum Anscheinen gebracht. Als Agnostiker selbstverständlich. Und der Agnostiker bestätigt mehr, als er zweifelt.

 

Ein unanschauliches Anscheinen aber, eines, das man nicht sehen kann. Das aber, etwa im Schreiben, verhandelt werden muss. Die Autorin bezieht sich quellensicher aufs Fühlen, ich denke da eher an intellektuelle Tätigkeit. Jede Galerie, die von der Imageaufwertung von Kunst überm Sofa profitiert und dann doch aufgeben muss, verdeutlicht das in ihrer Metaperformance. Kunst selbst hat ein Image. Imageologie und Imaging-Diskurs meinen, das zu behandeln. Es ist das Thema der Geschichte der Kunst seit ihrer Entdeckung durch das Bürgertum bis »hinab« zu Comics als Kunst oder Bierflaschen / Bierbrauen / Biertrinken als Kunst. Der Werbung kam bald zu, brauchbarer Sinnträger zu sein, für was die repräsentative Kunst nichts mehr übrig hatte. Duchamp habe das alles früh im letzten Jahrhundert auf einen Nullpunkt gebracht. Seitdem sei jedes Kunstwerk nur noch Fetisch der Fetische, oder ohne Werkcharakter und Erkenntnisauftrag, ergo nur das Leben selbst und demnach nichts. Nun muss man Duchamp anders lesen, wird hier gesagt, denn hinter dem Nichtkonsumierbaren Konsumding stehe ein Konsumierbares, das weder Religion, weder Wissenschaft noch Tauschobjekt ist. Duchamp kann demnach nicht der Zerstörer, sondern nur der sein, der resettet hatte. Am Unfertigen lässt sich aufbewahren, was über es symbolisch noch oder eben seit ungefähr 1914 nun wieder, aber nur unter Schmerzen gesagt werden kann.

 

Die Frage ist nur, ob Ursula Panhans-Bühler nun das Unfertige des Readymades als Medium für Erfindung von Sinngehalt sieht. Ob sie also einen anderen (?) Sinn jenseits seiner gesetzten Funktion als Bedeutungsträger abgewinnen mag. Reclaim Meaning. Ja, das liegt ja auf der Hand. Nur tut sie das in einer gleichzeitigen Infragestellung, indem sie abschweift, Geschichten erfindet, Notizen und Skizzen von Duchamp paraphrasiert. Sozusagen als Anathema, als Widerspruch in der Bejahung des Gegenstands. Wohlgemerkt, der banale Gegenstand ist der Flaschentrockner. Seine Banalität geht verloren auf über 190 Seiten, auf denen das intuitive Wissen – eine wichtige Konstante in Panhans-Bühlers eigener Lehre, so darf man sagen – befragt wird. Im Kopf geht nämlich alles: Gedankenexperiment.

 

Gewiss, der Flaschentrockner ist außerhalb seines Gebrauchs als solcher keiner mehr, und deshalb bringt er, herausgefallen aus der Warenfunktion, herausgefallen aus der üblichen Gebrauchsfunktion, zerobjektiviert einige Eigenschaften mit, die sich nur zu gut in der Welt der Zuschreibungen im »Metapherngestöber«, wie Panhans-Bühler erkennt, quasireligiös verticken lassen. Um dem zu entgehen, müssen die wahren und unwahren Geschichten wie gesagt erst einmal aufgeschrieben werden, um Entscheidungsgrundlagen zu haben. Ein einfacher Vorgang. Nur woran wird das Erzählte gemessen? Panhans-Bühlers These ist ja, dass sich nicht beliebig mit der Sinnhaftigkeit umspringen lässt. Das bereits stillgestellte Objekt, also der Komplex Duchamp-Readymade-Kanon, kann nur dann geöffnet werden, wenn von neuem hypothetische Prozesse geführt werden. In vorgeführten Schauspieleinlagen und Kurzgeschichten wird die Suche nach der vierten Dimension, welche neben den drei bekannten Raumdimensionen nicht synonym mit der vermutlich nichträumlichen Zeit verstanden werden kann, wird abenteuerlich und mit Rückgriffen auf Aufzeichnungen Marcel Duchamps präzisierend holzwegig das durchgespielt, was Duchamp in Formeln zu packen versuchte. Das Hypostasierte wird aber nie erreicht, nie voll aneigenbar, nur vorgestellt. Etwas, das man bei der Suche nach bisher unbekannten Teilchen der Materie im CERN und den dort gepflegten Parallelwelten der nichtmessbaren Materie neben der messbaren immer mitbedenken muss. Die Ergebnisse werden berechnet. Zwischen uns und dem Unbekannten liegt das System Wissenschaft – und ermöglicht Erkennbarkeit. Doch was ich nicht messen kann, weil keine Instrumente und Ausgangsmaterialien vorhanden, muss ich literarisch sein. Damit steht diese Kunst neben Wissenschaft und Religion, und kapitalistischer Warenwelt sowieso. Ihre Autonomie ist damit umso anfälliger.

 

Der Begriff des allegorienhaften Sinnbilds im Gegensatz zur Metapher ist entscheidend. Die Allegorie, hier gleichsam eine wortreiche Maschinerie des sich selbst erklären wollenden Bildgebers für einen Forschungszweck, lässt wenig Spielraum für die Verfolgung und Verzählung der These, das geht nicht beliebig. Was da statthaft ist, muss aber strittig werden, wird altmodisch discours, Abhandlung, nicht Diskurs. These ist, dass das sichtbare Dreidimensionale Hinweise darauf enthält, was eben nicht nur drei Dimensionen hat. Das sachlich Gegebene steckt aber voller Schwierigkeiten, dieses »nur« auf diese hypostasierte Vierdimensionalität zu bringen. Nur von was wird hier hypostasiert, von was wird abgeleitet? Oder mit Kant (?) – Welchem Gedanken wird hier eine gegenständliche Realität untergeschoben? Mit Duchamp wäre die uns bekannte dreidimensionale Welt eine Projektion der vierdimensionalen. Aber, da muss man streng sein, es handelt »sich« um gar nichts. Nur die Apparition, das Auftreten eines solch vermuteten Wesens bringt in der Interpretation und nur in der Interpretation eine empirische Evidenz zustande. Das macht also Duchamp nicht allein. Es geht demnach weniger um die Ausdeutung eines Werks von Duchamp. Aber nicht bloß der deutungs-politische Akt des Durchgangs (dis-cours), nicht nur die Art und Weise der Darstellung stehe zur Debatte. Descartes bleibt folgenreich Grundlage auch für die nicht nur persiflierende Pataphysik, auf welche sich Panhans-Bühler – sozusagen gut pataphysisch – weder zustimmend noch ablehnend bezieht. Sagen wir: der Aufbau des Fetischs der Erkenntnis und seine Enttäuschung.

 

Wenn der Flaschentrockner im Duchampschen persönlichen Universum mit

Allgemeinheitsanspruch als ein »geistiges Sinnbild« verstanden werden soll, so würden die Stellen im Buch als aufschlussreich gelten, in denen es um die Widerständigkeit der Kunst geht. Die Produktivität dieser Branche ist dann nicht in ihrer Produkteherstellung, den »Arbeiten« wie Ursula Panhans-Bühler kritisiert, zu suchen. Die »unheilige Trias von Geld, Geist und Produkt«, so bliebe aber anzumerken, ist mithin der verfälschend und zugleich entlarvende Blickwinkel. Da der Blick auf diese drei die vierte Dimension der Verhältnisse noch nicht sieht, deren Apparence UND Apparition die ersten drei sind – auch wenn das eine dem Rezensenten möglicherweise nicht zustehende Inanspruchnahme des Themas des Buches ist. Die Autorin unterschied mit Duchamp nämlich beide (Apparence und Apparition) von einander als Erscheinung und Auftretendes, also als Manifestation und Verlaufsform. Da es sich systematisiert gesehen um Skulptur handelt, wäre demnach das Erstere als die Form des Gusses, das Zweite als die Form des Giessens. Jeder, der roten oder anderen Wein trinkt, wird diese Unterscheidung nachvollziehen können, wenn die Flasche leerer wird, wie sie kenntnisreich erläutert. Etwas feiner gesagt, das Geld ist der Schein, während dem entlohnten Geist sein Produkt genommen wird. Entzug oder Verweigerung also auch hier.

 

Unterstellen kann man Ursula Panhans-Bühler, dass sie in Anwendung der Verschiebungen wissenschaftlicher Arbeitsweisen nach Duchamp und in der Unterschreibung der Verweigerung dem Nützlichkeitsdogma gegenüber, genau diesen, mit ihm neu formulierten Unterschied in der Funktion der Kunst in der zerstückelten Gesellschaft explikativ, jedoch außertextuell klarmacht. Freilich anhand des Lesers und seines Anteils an der Publikation. Der Skeptizismus Duchamps ist das Problem. Dass sich eine gefeierte gegenwärtige Generation von Dokumentaristen und Sozialartisten mit diesem geradezu traditionellen Gestus weniger zufrieden geben will und gerne mitregiert, ihn aber als Haltung mitträgt, steht in dicken Katalogen.

 

 

 

Matze Schmidt

 

 

[1] »Oh! yes, Agnes Meyer-Brandis is very beautiful. She's also bright, talented and from what I gathered from the interview I made of her, she's a really nice person.« (http://www.we-make-money-not-art.com/archives/2006/11/interview-with-1.php)

 

 

Ursula Panhans-Bühler: Gegeben sei: die Gabe. Duchamps Flaschentrockner in der vierten Dimension, Hamburg 2009 (Philo Fine Arts), Fundus 176

 

www.return3d.de

 

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