18. Februar 2010

Ein bunter Hund

 

Die Kombination ist wohl einzigartig. Zumindest laufen einem nicht täglich zehn Leute über den Weg, die zugleich gräkophil, sinophil und katholisch sind. Bei Philippe Sollers ist es mehr als Koketterie, sich mit den drei Überzeugungen zu schmücken. Er spricht von einer „identité soudaine“, also einer plötzlichen, unerwarteten Identität des Griechischen, Chinesischen und Katholischen. Eine Art von Trinität? Eine bloße Trias, oder ein minimaler Borromäischer Ring? Denkt Philippe Sollers an Griechenland, so ist offensichtlich nicht das heutige Land gemeint, das kurz vor dem Bankrott steht. Es ist vielmehr das Land, in dem die Menschen noch mit den Göttern durch die Lande und in den Krieg zogen und von dem vorbildhaft Homers „Odyssee“ erzählt, der Sollers die gute Hälfte seines Essays widmet. Es ist die Anwesenheit der Götter, die ihn interessiert. Die Wandelbarkeit und Klugheit des Helden Odysseus. Das Einsetzen von Pseudonymen. Der Frauenheld. Und ein Mann, der nur scheinbar dem familialen Muster entspricht, denn nach der Tötung der Freier bricht er sogleich wieder auf und verlässt Penelope.

 

Wer Sollers ein wenig kennt, weiß, dass solche Porträts kein Selbstzweck sind, sondern Filiationen; hier werden Genealogien geschmiedet mit nahen und entfernten Knotenbildungen. Der Beistand der Götter ersetzt Psychologie. Die ein „Subjekt“ voraussetzen würde. Sollers bevorzugt die „identité multiple“, die man ihm vorwirft. Aber das ist bei ihm System, der oszillierende Charakter, der nicht feststehende Standpunkt. Und doch. Wie kann man zugleich Grieche und Chinese sein. Die Chinesen kennen in ihren auf frühe Zeiten zurückgehenden Traktaten über den Krieg keinen Helden im klassischen griechischen Sinn. Auch fehlt ihnen jeder tragische Sinn, da sie keine Auflehnung kennen gegen das Geschick. Oder die Natur. Die alten Chinesen folgen dem Weg (tao), der sich seinen „Weg“ macht.

 

Das weiß natürlich auch Sollers. Er sieht die Verbindung in dem mächtigen Epitheton „göttlich“, auch wenn die jeweilige Funktion im griechischen und chinesischen Kulturkreis eine andere ist. Zudem glaubt Sollers eine beträchtliche Diskrepanz wahrzunehmen zwischen der Theorie des Krieges (Sun Tzi; Die 36 Stratageme) und den tatsächlich geführten. Alles nur Spiel, l’art pour l’art? Der Krieg sei „göttlich“ („divine“), so Sollers, der eine Formulierung des großen Reaktionärs Joseph de Maistre aufgreift. Dieser führte einen erbitterten Feldzug gegen seinen Feind, den „Protestantismus“ (selbst eine multiple Persönlichkeit, denkt man nur an Calvin, Zwingli, Luther). Es könne, so de Maistre, nur eine Autorität geben, und das sei die katholische Kirche, personifiziert durch den Papst. (Man kennt Sollers’ „Kniefall“ vor den beiden jüngsten Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI.).

 

Es gibt am Ende dieses Traktats eine bezeichnende Stelle, an der Sollers die Karten auf den Tisch legt vor dem, der immer noch im Zweifel bleiben sollte hinsichtlich seines Standpunktes: Es heißt dort: „Was mich angeht, so war ich genötigt, mir eine fehlende Autorität zu erfinden, die, bizarrerweise, aber logischerweise, sich der römischen Position anschließt.“ Die Erfindung ist ein Wiederfinden, das wenn man will künstlerische Moment geht nicht auf in einem „modernen“ Aufbegehren, sondern zurück auf Altbekanntes, das größer ist als man selbst. Genau in diesem Moment scheinen sich in der Tat die drei Charaktere zu treffen. Der Protestant okkupiert eine Position, die er legitimerweise gar nicht einnehmen kann, denn er kennt „seinen“ Gott gar nicht. Das liefe auf falsch verstandene Mengenlehre hinaus.

 

Die für Sollers entscheidende Frage lautet daher, wie man einen Gott wiedererkennen soll, den man gar nicht kennt. Da aber der Krieg immer göttlich sei und immer Krieg herrsche, sei die Menschheit heute, mit Heidegger gesprochen, auf den sich Sollers immer wieder gerne bezieht, „seinsvergessen“, wenn sie diese göttliche Sphäre missachte. Die Vernunft alleine habe keinen Zugriff auf diesen Krieg. Wie aber gelingt es heute, die Göttin Athene auf den Plan zu rufen, die damals Odysseus beistand. Was hat es mit den „geheimen Kriegen“ auf sich, von denen der Titel dieses Buchs spricht? Sollers schreibt ein klassisches Französisch, aber seine Argumentation ist nicht klassisch. Sie folgt ihrer eigenen Logik, und es ist die Logik von „Philippe Polumétis“, so die griechische Übersetzung von Sollers’ Pseudonym, das man in etwa mit „ganz aus Kunst“ übersetzen könnte. Dieses Traktat ist, wie viele andere Texte des Autors, ein Spiegelkabinett, in dem sich Texte in Texten spiegeln. Hier drückt sich scheinbar die Zurücknahme des „Subjekts“ Sollers aus. Der lieber Zitate (von sich) sprechen lässt. Aber immer wieder heißt es, dass der Autor „insistiere“, dass er es „interessant“ finde, immer wieder werden Urteile gesprochen, die eigentlich nur von einer göttlichen Position aus zu fällen wären. Mit einem Wort, Sollers verstellt sich selbst den Weg zu seinem präsumierten Verschwinden.

 

Zu den anregendsten Bemerkungen des Autors gehören seine Andeutungen zum Machtspiel des heutigen China, das sich aus den heillosen Kriegen heraushalte und die jeweiligen Kriegsparteien sich gegenseitig ermüden lasse. Der Vierte Weltkrieg (den Dritten habe die UdSSR verloren) würde zwischen den USA und China ausgetragen. Er sei schon im Gange. Und Sollers lässt keinen Zweifel, wer am Ende der Sieger sein wird. Also sind die alten chinesischen Strategiespiele doch nicht nur Makulatur? In „Guerres secrètes“ geht es zuletzt um „Wahrheit“, die aber ist dem Einzelnen entzogen. Er kann sich ihr aber öffnen. Wie das genau gehen soll, weiß auch der Autor nicht. Gleichwohl greift er auf die mysteriöse Formel Rimbauds zurück, der am Ende von „Une saison en enfer“ schreibt, dass es „mir erlaubt sein“ wird, „die Wahrheit zu besitzen in einer Seele und einem Körper.“

 

In dieser Formulierung treffen sich Franzose und Chinese. Mit päpstlichem Segen. Im dionysischen Rausch. Wohl bekomm’s.

 

Dieter Wenk (01-2010)

 

Philippe Sollers, Guerres secrètes, Paris 2007 (Carnets Nord), folio 2009

 

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