14. Februar 2010

Kirsche auf Eiscreme

 

Dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges sei, ist eine Binsenweisheit, gleichwohl nicht falsch – dies unabhängig davon, ob der Begriff ‚Wahrheit’ nun dekonstruiert oder rekonstruiert wird. Dabei sind Abstufungen vorzunehmen: Die NATO ist nicht der Warschauer Pakt. Nach Ausmaß und Methode der Manipulation bestehen bedeutende Unterschiede. Wer dies nicht anerkennt, verdeckt die Differenz von liberalen und autoritären Staatsformen. Trotzdem: Auch der Westen manipuliert, ‚muss’ manipulieren. Dies gilt für den Kosovo- wie den Irak-Krieg, und während des Kalten Krieges kam amerikanische und NATO-Politik mehr als einmal dem Staatsterrorismus bis zur Ununterscheidbarkeit nahe: Chile, Gladio, ‚strategia della tensione’ seien genannt. Wie es um den Afghanistan-Krieg bestellt ist, werden wir, vielleicht, in zehn Jahren überschauen.

 

Mag es an Übersicht fehlen, wichtig bleibt, auf Augenhöhe mit den spin doctors zu bleiben. Hierfür empfiehlt sich Merves Wörterbuch des Krieges/Dictionary of War. Zu Recht?

 

„Das nun vorliegende Buch ist ein erstes und vorläufiges Resultat aus einer Serie von Performances. Zu jeder dieser zweitägigen Veranstaltungen waren 25 Begriffspersonen mit möglichst unterschiedlichem Hintergrund eingeladen: Wissenschaftler, Künstler, Filmemacher, Architekten, Choreographen, Aktivisten und Theoretiker. In 30-minütigen Vorträgen, Lesungen, Film-, Bild- und Musikbeiträgen oder Performances versuchten sie jeweils einen Begriff zu bilden, der entweder neu ist, neu bestimmt werden sollte oder in Vergessenheit geraten war. Die Beiträge wurden ununterbrochen und in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt, von mehreren Kameras dokumentiert, live gemischt und einkodiert, und auf der Internet-Plattform als Videodateien frei verfügbar gemacht ( www.woerterbuchdeskrieges.de ).“ (6)

 

Besagte „Plattform“ – ein Lieblingswort der Autoren, Huldigung an Gilles Deleuze und Toni Negri – ist weitaus umfangreicher als die Buchausgabe geraten. Damit stellt sich die Frage, ob und weshalb es einer solchen bedarf. Die Antwort bleibt vage und phrasenhaft: Die Buchversion stellt „den Versuch dar, das Projekt […] in eine weitere Richtung voranzutreiben. Ziel war nicht, einen repräsentativen Ausschnitt […] zusammenzustellen, sondern die Besonderheit des Projekts in einen neuen Zusammenhang, einen weiteren Aggregatzustand zu übertragen.“ (6)

 

Im neuen „Aggregatzustand“ bleibt gleichwohl vieles beim Alten: Er unterliegt dem Fluch der Mündlichkeit – mit sprachlicher und gedanklicher Unausgegorenheit, Sprunghaftigkeit, Redundanz, allerlei identitätsstiftenden Floskeln, Schibboleths, die ‚schwarz auf weiß’, im schriftlichen Format, weit weniger eindrucksvoll tönen als in der „Performance“. Mancher Artikel kommt einer Litanei wohlmeinender Phrasen recht nahe:

 

„Wir reden viel von oder ich habe in der Vergangenheit viel von Globalisierung geredet, und tue es noch immer, doch ich denke, dass etwas im Gang ist, was ich als Ansiedlung von Stücken und Teilen bezeichnen möchte, von – wieder handelt es sich um drei Dinge, die ich gern benutze – Territorium, Autorität und Rechten. Und zwar von Stücken und Teilen, die einstmals auf zentripetale Weise im Nationalstaat angesiedelt waren. Sie werden umgesiedelt. Sie werden in eine Vielzahl neuer Zusammensetzungen umgesiedelt. Einige sehr unsichtbar, einige sehr partikulär, grenzüberschreitend, global, weniger global, sub-national, eine Mischung. Was im letzten Jahrhundert die Bindekraft des Zentrums ausmachte, war das zentripetale Vermögen des Nationalstaats, die Kirsche auf der Eiscreme. Ich glaube, dass dieses Ausbluten in neue Formationen nicht lediglich eine Schwächung bedeutet, sondern neue Zusammensetzungen hervorbringt. […] Ich denke, das erschüttert die Bedeutung der liberalen Demokratie, es erschüttert die Bedeutung des Staates, es erschüttert die Bedeutung des Krieges, und folglich erschüttert es die Bedeutung Anti-Krieg zu sein.“ (27)

 

So spricht die Saskia Sassen, Soziologin in Chicago und London. („Übersetzung aus dem Amerikanischen: Andreas Hiepko“.) Ob eine Suada dieser Art im mündlichen Format nicht besser aufgehoben wäre? Mag sein, dass Merve anderen Regeln unterliegt als andere Verlage, doch was im Buchformat erscheint, ist auf Dauer gestellt, nicht auf 30 Minuten verbaler Aktion.

 

Zugegeben: Nicht alle der zwei Dutzend Essays zwischen „Angst“ und „Widerstand“ sind von solcher konfusen Art wie die Einlassungen Sassens. Zu den sprachlich gediegensten (und inhaltlich schillerndsten) Texten zählt ein Essay Dietmar Daths über das „Wetter“. Auch Eric Alliez, Schüler Deleuzes, und Toni Negri, Schutzpatron des Post-Anarchismus à la Multitude und Empire, sind vertreten, und mehrere Beiträge stehen unter dem Patrozinium Giorgio Agambens, der als gelehriger wie renitenter ‚Schüler’ Carl Schmitts liberale wie autoritäre Staatswesen auf ihren gemeinsamen Urgrund: Gewalt zurückgeführt hat.

 

Bemerkenswert ist dies: Das „Wörterbuch des Krieges“ wird durch die ‚Kulturstiftung des Bundes’, mithin aus dem Haushalt der Bundesrepublik Deutschland, gefördert. Dergleichen unwahrscheinliche Allianzen dürfen als Belegfall des im Wörterbuch beschworenen „postmodernen Kriegs“ angesehen werden, der klare Frontstellungen ‚klassischer’ und ‚moderner’ Kriege verwischt: Ein Kriegsherr (Bundesrepublik Deutschland) finanziert seine Kritiker – die zahlreichen ‚Auslandseinsätze’ der deutschen Armee zwischen Somalia und Afghanistan werden durch die Autoren des Wörterbuchs mehr oder minder ausdrücklich verdammt. Dies ist, vielleicht, ein Beleg für die allen Erfordernissen der Macht – dem Anschein nach – widerstrebende Fähigkeit des liberalen Staates, das eigene Handeln, zumindest in Teilen, infrage zu stellen. Vielleicht aber ist es gestattet zu lachen – über das Hofnarrentum (?) eines kriegsherrlich alimentierten Pazifismus respective die selbstkritischen Trockenübungen (?) eines postmodern Krieg führenden Staates. Oder aber uns fehlen – trotz dieses Wörterbuchs – Wörter, dergleichen unsaubere Frontverläufe nachzuzeichnen.

 

Um Selbstkritik nicht zum Vorrecht des Staates geraten zu lassen, sind die Autoren gehalten, eigene Befangenheiten – die Blickverengungen einer ‚moral minority’ – zu bedenken. Dies mündet, zugegeben, im hyperbolischen Zweifel. Wo alles fraglich wird, ist Paranoia. Ob einer Verschwörungstheorien huldigt, ist am Ende kaum mehr als eine Frage des Geschmacks.

 

 

Daniel Krause

 

PS: Wer ein passgenaue(re)s Wörterbuch des Krieges sucht, möge Georg Schramm, dem genialischen deutschen Parodisten, sein Ohr leihen. Hier mimt der ehemalige Berufssoldat den „postmodernen“ Militär unserer Tage – im Gespräch mit Alexander Kluge: Das Weichziel ist der Mensch.

 

www.youtube.com/watch

 

 

Multitude e. V. (Hg.): Wörterbuch des Krieges/Dictionary of War. Merve (Berlin) 2008. 342 Seiten. ISBN: 978-3-88396-239-9

 

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