Theater der Unterdrückten

 

Von Martin Behr

 

 

Einleitung

 

 

In dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, sich über eine Praxisform von Öffentlichkeit, dem so genannten Theater der Unterdrückten, einer konzeptuellen Rahmung des Begriffs anzunähern. Um diese Annäherung zu erreichen, soll ein Fokus auf die Konstituierung von Öffentlichkeit(en) unter Einnahme einer sozialwissenschaftlichen Perspektive gelegt werden. Dabei wird die Habitus-Feld-Theorie Pierre Bourdieus als theoretischer Hintergrund eine wichtige Rolle spielen, die dabei von anderen Ansätze in den Sozialwissenschaften abgegrenzt werden soll.

Bei der Untersuchung des Theaters der Unterdrückten (des weiteren als TdU abgekürzt) sollen aber nicht die einzelnen Methoden und Techniken der konkreten Theaterpraxis behandelt, sondern viel mehr versucht werden, einen Zusammenhang zwischen dem Theaterspiel und den sozialen Räumen als Orte von Öffentlichkeit herzustellen. Es wird davon ausgegangen, dass sich im Theater der Unterdrückten spezifische Einzelöffentlichkeiten konstituieren, die, so die Hypothese, sich deshalb bilden, weil sie sich auf bestehende soziale Konstellationen beziehen.

 

Zunächst wird der Versuch unternommen, ein kurzes Schlaglicht auf die mögliche Konzeptualisierungen des Öffentlichkeitsbegriffs zu werfen und dabei ein begriffliches Öffentlichkeits-Verständnis für das Theater der Unterdrückten herauszuarbeiten. Nachfolgend soll ein kurzer Abriss, der in keiner Weise einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, über einige für diese Betrachtung wichtige analytische Kategorien der Theorie Pierre Bourdieus gegeben werden. Daran anschließend, unter knappem Verweis auf die Entstehungsgeschichte des TdU, wird versucht werden, die im TdU eingegangenen und für seine Praxis wichtigen Ideen darzustellen, und diese schließlich auf die Soziologie Pierre Bourdieus zu beziehen. Abschließend soll eine Präzisierung des Begriffs der Öffentlichkeit für das TdU erfolgen, indem das Erarbeitete zusammengefasst und kritische gewertet werden soll.

 

 

 

 

 

Konzepte von Öffentlichkeit

 

Der Begriff der Öffentlichkeit birgt eher ambivalente als einheitliche Aspekte. Dies ist wohl den unterschiedlichen Perspektiven seiner Betrachtung geschuldet, und nicht zuletzt seinen historischen Entwicklungen. So wird etwa von politischer oder medialer Öffentlichkeit gesprochen, von der öffentlichen Meinung, von Einzelöffentlichkeiten, die sich auf bestimmte, festgelegte Bereiche beziehen können und nur dort wirksam werden. Der Öffentlichkeitsbegriff hat in verschiedenen Sprachen zudem noch verschiedene Bedeutungen und in den Schnittmengen ihrer Bedeutungen zum Teil unterschiedliche Skopen .

Fast immer werden in den Öffentlichkeitsbegriffen auch weit reichende Konzepte impliziert, wie bspw. räumlich-zeitliche Dimensionen. Zudem erfolgt eine Diskussion des Öffentlichkeitsbegriff auch oft in Verbindung mit Termini wie Kommunikation, Medium/Medien, Sozialstruktur, Publikum, Funktion etc. (vgl. Hohendahl et al.: 1993).

Als eine, wenn vielleicht auch ‚abendländisch-ethnozentrische’, aber dennoch verbindende Eigenschaft, ließe sich Öffentlichkeit als dichotomes Konzept festschreiben, das die zwei Seiten öffentlich vs. nicht-öffentlich beinhaltet. Werden diese einander ausschließenden Abgrenzungen auf das Zeit-/Raumkonzept bezogen und in Zusammenhang mit sozialen Strukturen gesetzt, könnte dies als Ausgangspunkt für den Versuch dienen, einen Öffentlichkeitsbegriff für das Theater der Unterdrückten zu entwickeln. Im Folgenden soll dieser Versuch unternommen werden.

 

 

 

 

 

 

Das Theaterkonzept Augusto Boals – soziale Räume als ästhetische Räume

 

 

Zur Frage nach einer systematischen Fassung der Ideen, die das Theaters der Unterdrückten konstituieren, hat Augusto Boal zu verschiedenen Gelegenheiten Stellung genommen, nicht zuletzt in seinen veröffentlichten Schriften und zahlreichen Zeitungsinterviews . Boal betonte dabei immer wieder, dass eine tragende Säule des TdU gerade darin besteht, dass es sich um ein Gemeinschaftsprojekt handelt, das auf dem Beitrag, der Spontaneität und der Variabilität der Teilnehmenden und damit auf wenig festen Strukturen basiert, und gerade deshalb eine exakte theoretische Konturierung seiner vielfältigen Formen schwer möglich ist (vgl.: Schechner 1998).

Dennoch verbinden sich im Theaterkonzept Augusto Boals zwei wesentliche Orientierungen, auf denen die Grundideen des Theaters der Unterdrückten fußen. Zum Einen ist dies die so genannte Pädagogik der Befreiung Paulo Freires. Zum anderen die Auseinandersetzung mit dem Theater Berthold Brechts und damit auch die Abgrenzung zum bürgerlichen Theater in der Tradition Aristoteles’.

 

Das Theater der Unterdrückten ist auf Grund seiner Entstehungsgeschichte dem Anspruch eines Instruments des sozial-politischen Engagements verhaftet. Dies ist nicht zuletzt seinem Entstehungskontext im Brasilien der 1970er Jahre geschuldet. Die volksrevolutionären Bewegungen Lateinamerikas und ihr Versuch einer Emanzipation vom dominanten kapitalistischen Wirtschaftsmodus, aber auch die direkte Erfahrung von Unterdrückung in der Diktatur, sowie das erzwungene Exil sind prägende Elemente für die Ideen, die im TdU Eingang gefunden haben (vgl. Boal: 1975, n°21). Dennoch – gerade durch eine fortdauernden Rezeption und die Arbeit Boals in Europa – hat sich das TdU von diesem Hintergrund gelöst und zunehmend von einer politischen zu einer sozialtherapeutischen Methode entwickelt.

 

Die auch bei Brecht bekannte Forderung eines aufklärerischen Theaters, das über eine alleinige Unterhaltungsfunktion hinaus weist, finden sich in erweiterter Form in der Theaterpraxis Boals wieder. Natürlich geht es auch in der auf Aristoteles verweisenden (bürgerlichen) Theatertradition nicht allein um ‚Entertainment’. Diese Idee von Theater birgt auch einen Sendungsgedanken, der – im Gegensatz zu Boals Konzept – allerdings eher ein erzieherischer ist: In der ZuschauerIn soll durch das Einfühlen in das szenisch Dargestellte der Wunsch erzeugt werden, es den (positiven) Helden auf der Bühne gleich zu tun (F 47). Boal dagegen postuliert dagegen den Begriff des Mitfühlens , das den/die Spielende im Bezug auf sein Gegenüber zur Selbstbestimmung des eigenen Handelns befähigt und nicht nur zur bloßen Nachahmung eines vorgefertigten (Welt-)bilds. Er wendet sich gegen den bei Aristoteles verwendeten Katharsis-Begriff, als eine seiner Ansicht nach „funcao repressiva“, die lähmend auf soziale Impulse wirke, da in ihm nur der Nachvollzug von bereits Vorgegebenem angelegt sei. (Dabei soll das betroffene Subjekt sich zunächst als solches Erfahren – in seiner konkreten Unterdrückungssituation mit seiner spezifischen Problemlage. In einem nächsten Schritt soll sich die AkteurIn, die sich als Subjekt erkannt hat, zu einem handlungsfähigen Subjekt machen.

 

Neu im Theater Boals ist dagegen das grundsätzlich gewandelte Verhältnis zwischen Schauspieler und Zuschauer. Die klassische Rollenverteilung eines passiven SpektateurIn gegenüber einem handelnden AkteurIn ist im TdU aufgehoben. Es gibt nur noch Handelnde. Das Theater Boals definiert sich auf einer Metaebene durch das Handeln selbst: Theater sei demnach gleich Aktion. Die Dichotomie aktiv/passiv soll im Boalschen Theater überwunden sein. In dieser Zielsetzung wird implizit auch der Herrschaftsbegriff thematisiert. Die Befreiung der ZuschauerInnen aus ihrer Passivität im Theaterraum fällt zusammen mit der Rückeroberung der ProtagonistInnenrolle in der Wirklichkeit.

Die diesem Gedanken zu Grunde liegende Überzeugung ist folgende: Nur in der Abkehr von dem o.g. einfühlenden Spielen, in der Hinwendung zu einem mitfühlenden Spielen, kann eine über einen bloßen Erkenntnisprozess hinaus gehende Mobilisierung (die für Boal programmatisch ist), durch die Handelnden selbst erreicht werden. Der Schlüsselbegriff des Boalschen Theaters ist Veränderung. Jeder Wille zur Veränderung setzt ein gewisses Bewusstsein über das zu Verändernde voraus. Zentral ist für Boal die Leidenserfahrung einer Unterdrückungssituation, wobei diese nicht nur als physisch, sondern auch als sehr subtile Repression oder Manipulation erfahren werden kann. Gerade unbewusste Unterdrückungsstrukturen bewusst zu machen, daraufhin sind die Techniken des TdU angelegt. In der Annahme, dass diese Strukturen oftmals verinnerlicht sind, bedarf es introspektiver Mittel um deren Wirkmechanismen zu offenbaren. Das TdU bietet hier eine Reihe von Übungen, Techniken und Methoden, bei denen sehr stark der Körper als Medium betont wird. Hierbei muss auch die Entwicklung des TdU vom Volkstheater hin zu einem therapeutischen Theater, das sich eingehend dem Erkunden psycho-sozialer Befindlichkeiten widmet, Aufmerksamkeit geschenkt werden.

 

Die Bühne ist für Boal der „aestethic space“ (Neuroth: 1994. S. 35), jeder beliebige Punkt, auf den sich die Aufmerksamkeit konzentriert. Sie besitzt die Funktion eines Brennglases, in dem hervorgehoben wird, was „bei normalem Hinsehen“ nicht erfasst werden kann.

Jeder Mensch bediene sich in seinem Alltagshandeln theatraler Mittel. Aus diesem Grund sei jeder Mensch seinem Wesen nach ‚Schauspieler’. Daraus ergibt sich, dass reale (alltägliche) und ästhetische Dimension wechselseitig aufeinander bezogen seien. Das Theater ist plastisch: Die Beteiligten setzen ihre Darstellung unter Ausformung ihrer subjektiven Geschichte und Erfahrungen konnotativ um. Dabei soll das Theater Vergrößerungen liefern, indem Unscheinbares und Verborgenes telemikroskopisch sichtbar gemacht wird. Gefühle, Energien und Handlungen der Darstellenden sind wechselseitig aufeinander bezogen, was zum Ausdruck bringt, dass der dargestellte Konflikt immer sozialer Natur ist (1994. S. )

Erkennen und Handeln bilden in Boals Konzeption eine Einheit (Thorau: 1981. S. 52): Das Eingreifen, die Aktion, in der Theatersituation soll das Eingreifen in die Realität vorbereiten. Verschiedene Techniken bilden ein direktes Interface zwischen theatraler Inszenierung und Alltag. So etwa das so genannte Unsichtbare Theater, in dem eine spezifische Situation durch SchauspielerInnen in einer Alltagssituation, ohne das Wissen der übrigen Beteiligten um deren ‚Künstlichkeit’, erzeugt wird, oder dem ‚Forum-Theater’, in dem als Aufführung Öffentlichkeit (Neuroth: 1994. S. 71) produziert werden soll. Dabei ist die ‚Bühne’ immer auch Test –und Aushandlungsfeld für die Ideen der Teilnehmenden. Diese werden – entweder bewusst (Forumtheater) oder unbewusst (Unsichtbares Theater) – in die Rolle von Spielenden und damit von Handelnden versetzt. Die Techniken des Boalschen Theaters bieten dafür nur die Rahmung für den Handlungszusammenhang der Inszenierung.

 

 

 

 

Exkurs: Öffentlichkeit als soziale Räume und Felder

 

Ein Aspekt in der Konzeption des TdU, den es im Hinblick auf die Untersuchung des Begriffs der Öffentlichkeit hervorzuheben gilt, ist der der „Osmosis“. Mit ihm ist bei Boal die Durchdringung von Mikrokosmos und Makrokosmos gemeint. Das bedeutet, dass sich „alle moralischen und politischen Werte einer bestehenden Gesellschaft mit Ihren Macht- und Herrschaftsstrukturen in der kleinsten Zelle der sozialen Organisation, etwa der Partnerschaft, und in jedem Ereignis des sozialen Lebens wiederfänden“ (Neuroth: 1994. S. 73.).

Auch für die Kultursoziologie Pierre Bourdieus ist die Überwindung des Mikro-/Makro-Dualismus von essenzieller Bedeutung. Durch die Entwicklung seiner Habitus- und Feldtheorie werden die wechselseitigen Wirkungen zwischen Sozialstruktur und vergesellschaftetem Subjekt analysiert. Die ‚soziale Welt’ stellt sich somit als „ein Ensemble unsichtbarer Beziehungen“ dar, „die einen Raum wechselseitig sich äußerlicher Positionen bilden, Positionen, die sich wechselseitig zueinander definieren“ (Bourdieu: 1992b. S. 138). Das Interessante daran ist, dass es, so Bourdieu, ein verinnerlichtes ‚Bewusstsein’ der AkteurInnen, das eigentlich ein Unbewusstsein ist, da es als schematisiertes Handeln in der Regel nicht hinterfragt wird, über sowohl die eigene Positionierung als auch die relationalen Strukturierungen – die Beziehungen zu den anderen Positionen im Raum – gibt:

 

„Die Wahrnehmungskategorien resultieren wesentlich aus der Inkorporierung der objektiven Strukturen des sozialen Raums ( ... ) Der Sinn für die eigene soziale Stellung als Gespür dafür, was man ‚sich erlauben’ darf und was nicht, einen Sinn für Grenzen (‚das ist nichts für uns’), oder, in anderen Worten, einen Sinn für Distanz, für Nähe und Ferne, die es zu signalisieren, selber wie von Seiten der anderen einzuhalten und zu respektieren gilt...“

 

 

Für die Soziologie Boudieus ist es immanent in Beziehungsverhältnissen zu denken – im Unterschied zu einem Denken in Substanzen. Um zu verstehen, welches ‚Erzeugungsprinzip’ für die Bildung sozialer Felder und – gesamtgesellschaftlich gesehen – eines sozialen Raumes, wirkt, gilt es eine andere basale Kategorie des Bourdieuschen Theoriegebäudes näher zu betrachten, die im Begriff des Habitus konzeptualisiert ist. Der Habitus ist das, was das soziale Wesen des Menschen ausmacht. Er ist ein System dauerhafter Dispositionen, in dem Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata zusammenwirken. Dabei wird betont, dass jede(r) AkteurIn „gesellschaftlich prädeterminiert ist, und zwar dergestalt, dass diese Prädetermination als bestimmender Faktor in sein gegenwärtiges und zukünftiges Handeln einfließen“ (Schwingel: 1998. S. 55). Präziser gesagt, ist nicht der/ die AkteurIn prädeterminiert, sondern sein/ihr Habitus. Der Habitus fungiert als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen. Die anthropologische Grundannahme Bourdieus liegt darin, dass soziale AkteurInnen mit systematisch strukturierten Anlagen ausgestattet sind, die für ihre Praxis – und ihr Denken über die Praxis konstitutiv sind (1998. S. 55). Im Habitus eines Menschen drücken sich demnach individuelle und kollektive Erfahrungen in Form der oben erwähnten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata aus. Er ist also nicht angeboren, sondern durch Sozialisation erworben.

Eine weitere immanente Eigenschaft des Habitus besteht darin, dass er implizit ist, also nur ‚höchst bruchstückhaft’ die Ebene des Bewusstseins erreicht. Er ist sowohl „strukturierte Struktur“ wie auch Struktur generierendes Prinzip: Der Habitus fungiert als der inkorporierte Orientierungssinn, der den AkteurInnen hilft, sich in der sozialen Welt zurechtzufinden. Er stellt den Sinnhintergrund für die Ausführung sozialer Praktiken dar, er organisiert diese Praktiken und ist somit zuständig für die spezifischen Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Kategorisierungsmuster wie z. B. ästhetische Wertungen und emotionale Äußerungen. Auch die „leibliche Hexis“, d.h. die Körperhaltung- und Bewegung, die Art zu sprechen und die ‚Choreografie’ bestimmter motorischer Körperfunktionen sind durch den Habitus bedingt: Der Habitus präge die menschliche Existenz, so Bourdieu, auf so fundamentale Weise, dass er bis in die „entwicklungspsychologische Schicht der motorischen Schemata reiche“ (Schwingel 1998: S. 58).

Der Habitus ist gesellschaftlich bedingt; er formt sich über die sozialisatorische Praxis, in der sich die objektiv vorgegebenen materiellen und kulturellen Lebensbedingungen einer Familie, einer Klasse oder Schicht widerspiegeln. Diese Lebensbedingungen drücken sich im Zugang oder dem Verfügen über ideell-materielle Ressourcen, die bei Bourdieu durch vier Kapitalsorten (ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches) beschrieben werden, aus.

Wichtig für Bourdieus Konzeption bleibt es jedoch festzuhalten, dass der Habitus nicht das alleinige Erzeugungsprinzip sozialen Handelns ist. Der Habitus determiniert nur die Grenzen möglicher und unmöglicher Praktiken, nicht aber die Praktiken an sich. Der Handlungsradius der einzelnen AkteurInnen wird jedoch auch durch die ungleich verteilten Chancen über die verschiedenen Kapitalformen zu verfügen beschränkt, welche wiederum grundlegend für bestimmte Habitusformen sind. Die Verteilung der jeweiligen Kapitalsorten auf die verschiedenen AkteurInnen bzw. deren Anteil an diesen, nimmt bspw. Einfluss auf ästhetische Wertvorstellungen und Geschmackspräferenzen, die zwar innerhalb sozialer Gruppen nicht einheitlich ausgeprägt, jedoch Schicht- oder klassenspezifisch tendenziell ähnlich seien.

Deshalb besteht ein sehr wichtiger Aspekt, der sich im Habitus ausdrückt, im jeweilige Anteil seiner TrägerIn an den bestimmten Ressourcen. Diese bilden durch relative Nähe oder Distanz zu anderen Habitusformen verschiedene soziale Felder, in denen ähnliche Habitusformen als Klassen, Schichten, Gruppen oder Milieus zusammengefasst werden können. Aus diesen Positionierungen von Habitusformen ergeben sich Statusgruppen, Klassenfraktionen und Lebensstilmuster, die in Distinktionsbeziehungen zueinander stehen und dadurch die soziokulturellen Felder menschlicher Gesellschaften bilden. Diese Felder „funktionieren“ nach Marktgesetzen, indem den einzelnen Praktiken sowie den materiellen Ressourcen ein Distinktionswert zugemessen wird, der ihre TrägerIn mit mehr oder weniger großen Anteilen an symbolischen Kapital (in seinen Dimensionen: Prestige, Reputation, Ehre etc.) ausstattet. Dieses werde zum einen dazu eingesetzt durch Anerkennungsprofite soziale Differenzierung zu erzielen. Die Konkurrenz um die Durchsetzung des „legitimen Geschmacks“, den legitimen Wertvorstellungen oder der legitimen Sicht der sozialen Welt ist ein bewusster Prozess in einem Ungleichverhältnis, das auf symbolischer (Distinktions-)Macht beruht. Anderseits bildet sich durch die miteinander konkurrierenden Positionen eine den AkteurInnen inhärente Gewissheit für den Geltungsbereich der eigenen sozialen Praxis heraus, welche die symbolischen Grenzziehungen und damit die Distinktionseffekte ermöglicht. Das „Wissen“ der AkteurInnen um die jeweiligen Habitus-bedingten Begrenzungen von Handlungsfeldern ist ein implizites. Das bedeutet, dass eine grundlegende Eigenschaft des Habitus in der Verinnerlichung struktureller gesellschaftlicher Gegebenheiten besteht. Darüber hinaus generiert er soziale Praktiken, die wiederum in ihrer Interaktion der Handlungsspielräume zu sozialen Feldern führen.

 

Bourdieu zeichnet das Bild einer stark segmentierten Gesellschaft, die in hierarchischer Weise ausdifferenziert ist. In Bezug auf den Öffentlichkeitsbegriff müsste nach Bourdieu Öffentlichkeit eben in den ausgetragenen Distinktionskämpfen, in denen verschiedene Statusgruppen miteinander konkurrieren, ‚sichtbar’ werden. Dabei kristallisiert sich ein Begriff von Öffentlichkeit heraus, der sich an Termen wie ‚allgemein wahrnehmbar/erfassbar/erfahrbar/gegenständlich/offiziell’ orientiert. In der Bourdieuschen Theorie richtet sich der Fokus nicht auf die Verfasstheit von konkreten Einzelöffentlichkeiten innerhalb oder zwischen den Feldern. Im Mittelpunkt steht viel mehr das „‚Öffentlich-Werden’ von Stellungnahmen, von Ansprüchen auf Anerkennung einer Wahrnehmungsweise und eines praktizierten ‚Sinns für das Wirkliche’, für diese Strukturierung und für die symbolischen Kämpfe“ (Fischer: 2000. S. 69ff). Damit trägt Bourdieus Ansatz den sozialen Dynamiken Rechnung, die, entstehend aus den miteinander ‚unablässig um Unterscheidung’ ringenden sozialen Gruppen, ein System der (relationalen) Distinktionen etablieren. Zur Herstellung sozialer Unterscheidung bildet das Öffentlich-Machen ein entscheidendes Moment in der unerlässlichen „Produktion wie Durchsetzung von Sinn in den und vermittels der Auseinandersetzungen auf dem Feld der Kulturproduktion“ (Bourdieu: 1985. S.19ff).

Bourdieu begreift die Bildung sozialer Räume im Wesentlichen als einen Aushandlungs- und Durchsetzungsprozess, als eine „Ökonomie der symbolischen Güter“. Dabei geht es um nichts weniger als um das „Monopol auf legitime Benennung als offizielle – d.h. explizite und öffentliche – Durchsetzung einer Sicht der sozialen Welt“ (Kursivierung M.B.) in der die AkteurInnen das in den vorausgegangene Kämpfen erworbene Kapital einsetzen. Diese Benennungsmacht kumuliert in den so geschaffenen – da öffentlich gemachten – sozialen Räumen in denen die jeweils benachbarten AkteurInnen durch die relative Nähe ihrer Soziallagen zusammengefasst werden. Festzuhalten gilt, dass in der Theorie Bourdieus Öffentlichkeit als Raum/Räume konstituiert wird, wobei damit immer auch die „Bestätigung einer bestimmten Positionierung in den feldspezifischen Strukturen“ gemeint ist (Fischer: 2000. S. 71).

Auf eine grundlegende Implikation der Raummetapher soll an dieser Stelle knapp hingewiesen werden. Der Begriff Öffentlichkeit hat im semantischen Sinn u. a. folgende Bedeutungen von offen / (frei) zugänglich / unbegrenzt (vgl. Settekorn: 1997). ‚Raum’ drückt zumindest zwei Dimensionen aus: der geschlossene und der offene Raum. In der letzteren entspricht der Begriff der Konzeption der antiken Agora als offener Platz unter freiem Himmel, der frei begehbar und nur ‚begrenzt’ wird durch die Reichweite der Stimme der Sprecher. Ein weiterer Aspekt, der hier bereits angedeutet wurde, muss im Beitrag des jeweiligen Mediums für die Konstituierung von Öffentlichkeit gesehen werden. Eine Öffentlichkeit qua bloßer Stimme zu Zeiten der Agora steht einer heutigen digitalisierten multimedialen Öffentlichkeit, die geografische Distanzen in Echtzeit überwindet, gegenüber. Auf dieses Verhältnis kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Er soll nur darauf verwiesen werden, dass soziale Räume bei Bourdieu auch immer als Kommunikationsräume behandelt werden müssen, die wiederum auch immer an die Möglichkeiten ihrer technisch-medialen Präsentation und Repräsentation gebunden sind, die im Wechselverhältnis mit den Kommunikationsformen agieren. Im TdU ist das Medium Stimme als Körperorgan wie auch der menschliche Körper selbst Raum schaffendes und damit Raum begrenzendes Medium.

 

 

 

Der Öffentlichkeitsbegriff im Theaterkonzept Augusto Boals

 

Es sind in der Konzeption des Boalschen Theaters vorrangig zwei Bedeutungen von Öffentlichkeit, die zum Tragen kommen. Zum einen ist das die räumliche, die sich auf alle Teilnehmenden an der Aufführung bezieht, und dadurch ‚Raum schafft’ sofern die ProtagonistInnen mit der theatralen Handlung in Berührung stehen. Dabei ist es zunächst unerheblich, ob sich die ‚Bühne’ in einem Theatergebäude oder auf ‚offener’ Straße in einer Favela oder einem Hotelfoyer oder einem anderen Ort wie Cafés, Bars, Einkaufscenter etc. befindet. Der Raumbegriff figuriert hier abstrakt als ‚Bühnenraum’, auf den sich eine geteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden fokussiert. Seine Ausdehnung wird eben durch diesen Aufmerksamkeitsradius ‚begrenzt’. Dadurch entsteht ein Innen derjenigen, die durch ihre Aufmerksamkeit am Geschehen beteiligt sind und ein ‚Außen’ derjenigen, die es nicht sind. Diese, im Unterschied zu in vielen Öffentlichkeits-Konzepten vorhandene Idee eines Ein- und Ausschlusses (vgl. öffentlich vs. privat) wird im TdU nicht als strikte Dichotomie verstanden, da es keine explizite Grenzziehung gibt, die verhindert dem Ereignis beizuwohnen. Die Anteilnahme wird eher durch eine dritte Dimension erreicht (oder verhindert), auf die noch näher eingegangen werden muss, nämlich die soziale.

Zunächst konstituiert sich Öffentlichkeit aber neben dem räumlichen Aspekt auch zeitlich. Beginn, Verlauf und Ende des Spiels beschreiben seine temporäre Ausdehnung. In der zeitlich-räumlichen Beschreibung dieser Öffentlichkeit, ist aber gleichzeitig immer die soziale Komponente mitenthalten. Dadurch, dass die Aufführung an einem bestimmten Ort (Favela, Einkaufscenter, Café), zu einem bestimmten Zeitpunkt (bestimmter Tag, Stunde, Jahreszeit) stattfindet, werden auch immer nur bestimmte Gruppierungen von Menschen in die Theaterhandlung eingebunden. Dabei kommt die These von der Vorstrukturiertheit und Segmentiertheit sozialer Räume zum Tragen, die es anschließend noch zu diskutieren gilt.

Wichtig ist dazu zu sagen, dass der so konstituierte Öffentlichkeitsbegriff immer auf eine Teilöffentlichkeit rekurriert. Bei dessen näherer Identifizierung könnte hierbei der bei Luhmann dargestellte Bezug von Öffentlichkeit und Kommunikation hilfreich sein, wobei die Herstellung von Öffentlichkeit „als thematische Struktur öffentlicher Kommunikation“ (Luhmann 1970, S. 9f) verstanden wird. Anders und weniger systemtheoretisch ausgedrückt, hieße das, dass bestimmte Diskurse eben auch nur bestimmte soziale Gruppen oder bestimmte soziale Milieus betreffen, die für diese relevant sind und von diesen produziert und-/oder rezipiert werden. Die Vorstellung von einem politischen Begriff der Öffentlichen Meinung steht hier im Vordergrund. Dabei wird – anders als im intentionalen Befreiungskonzept Boals – von einem neutralen Funktionalismus ausgegangen, bei dem es um die „Unsicherheit absorbierende, Struktur gebende Leistung von Themen“ (Luhmann 1970: S. 14) geht. Gemeint ist damit wohl vor allem der systemtheoretische Grundsatz von der Reduktion von Komplexität, wodurch systemrelevante Themen herausgefiltert und dadurch die Kontingenz (Beliebigkeit) möglicher Themen eingeengt werde und dadurch letztendlich systemstabilisierend (in Luhmanns Worten: autopoietisch) wirke (vgl. Treibel 1997: S. 23ff).

Das bei Boal geforderte Mitfühlen verweist auch auf einen gemeinsam herzustellenden Handlungshintergrund, der in der Spielsituation erzeugt werden soll. Dieser Handlungshintergrund ist mit der geteilten Erfahrung einer Unterdrückungssituation zu benennen. Auch hier wird also ein „Themenfilter“ eingesetzt, der eine spezifische Kommunikationssituation schafft, die nur für die Beteiligten relevant ist, da in ihr eben die Probleme der ProtagonistInnen dargestellt werden.

 

Nach Bourdieus Ansatz ist Öffentlichkeit ein ideologisches Konstrukt, dass auf die Strukturen des sozialen Raumes bzw. der Räume rückbezogen werden muss (Fischer 2000: S. 65). Das bedeutet, dass in den „historisch sedimentierten, ‚objektiven Gegebenheiten’ von Öffentlichkeit in den verschiedenen Feldern“ sich die Relationen manifestieren, die Akteure bzw. Gruppen von Akteure zueinander eingegangen sind. Die Gegebenheiten selbst (Institutionen, Kodifizierungen, mediale Dispositive, politische und soziale Organisationsformen etc.) erscheinen den Agierenden insofern als ‚das Wirkliche’, als diese Bestimmung in jene Strategien eingeht, mit denen die Akteure relational Stellung nehmen und Stellung beziehen“ (Fischer S. 65). In den Relationen manifestieren sich wiederum die inkorporierte Handhabung von und die subjektiven Anteile an Ressourcen (Kapitalsorten), die jedoch nicht direkt ‚sichtbar’, sondern nur in Form der differenten Habitus für die AkteurInnen erfahrbar werden.

 

Boals Theater der Unterdrückten bezieht sich auf diese Räume, indem es soziale Ungleichheit und persönliche Erfahrungen damit zu thematisieren sucht. Ebenso wie die Habitus der AkteurInnen Ausdruck verinnerlichter Handlungs- und Orientierungsmuster sind, ebenso spiegele sich in ihnen auch eine inkorporierte Unterdrückungssituation einer hierarchisch segmentierten Gesellschaft wider. Diese Strukturen, so Boals Methode, gilt es in der kollektiven Spielerfahrung offen zu legen. Um auch die in die körperliche Hexis eingeschriebenen Habitusformen ihren TrägerInnen zu offenbaren, bietet das TdU verschiedene ‚Deritualisierungstechniken’. Eines der wichtigsten Elemente des Theaters Augusto Boals ist das Einsetzen der Körperlichkeit im Spiel als Mittel der Bewusstmachung. Hier lassen sich Anknüpfungen an die in Bourdieus Theorie entworfene Kategorie der Hexis, der habituellen Merkmale des Körperausdrucks finden, die in Boals Methodik bearbeitet werden.

Das elementare Anliegen des Theaters Boals ist es, Unterdrückungssituationen, unter denen die Spielenden leiden, ins Bewusstsein zu rufen. Dies geschieht in ersten Grundschritten durch Übungen bei denen der Körper als Ausdrucksmedium erkannt und aktiv genutzt wird. Manifestiert sich, gemäß Bourdieu, der Habitus auch in den psycho-motorischen Schemata, so gilt es, nach Boal, die darin Ausdruck findenden normativen und zwanghaften Routinisierungen zu offenbaren.

Der analytische Schnittpunkt zwischen Bourdieus Sozialtheorie und Boals Theaterkonzept besteht darin, dass sich im individuell Erlebten des Subjekts auch immer die kollektive Erfahrung des vergesellschafteten Individuums ausdrückt. Versucht also das TdU in seiner Funktion als therapeutische Methode diese beiden Seiten sichtbar zu machen, so muss es gleichzeitig auch immer den „Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft“ (Neuroth: 1994. S. 71) mitberücksichtigen. Dabei geht es um die Herausstellung eines kollektiven Erfahrungsgehalts, der Möglichkeiten zur politischen Artikulation einschließt. In dieser Hinsicht schafft das TdU zwar keine neue Öffentlichkeit, aber es bündelt zumindest interessensmäßig einander nahe Positionen. In der Theorie Bourdieus hieße das, dass hier ein Feld ähnlicher, von den Teilnehmenden inkorporierter Soziallagen in das Bewusstsein versetzt wird, sich diese zu vergegenwärtigen. Damit werden die für jede Soziallage spezifischen Normen und Zwänge hervorgehoben. Dennoch bleibt das Theater Medium, da die gesamte Spielsituation immer als eine Inszenierung in einem kommunikationsspezifisch abgegrenzten Raum stattfindet, also nur innerhalb der speziellen Rahmung seiner Techniken und Methoden. Im Übrigen gibt es keine empirische Erkenntnis dafür, dass das Bühnenhandeln, gemäß der Idee Boals, direkt in gesellschaftliches Alltagshandeln umgesetzt wird.

Was bleibt, ist wahrscheinlich die potenzielle Kraft des TdU bestimmte Anschauungen der Teilnehmenden zu restrukturieren. Dabei kommt es jedoch nicht zwingend zu einer Umformung von Öffentlichkeit, bzw. der bereits gegebenen Teilöffentlichkeit. Worum es wohl grundlegender geht, ist eine Einsicht in bestimmte soziale Konstellationen und damit auch in die Bedingungen von sozialer Ungleichheit. Anders, und in dieser Betrachtung nicht berücksichtigt, verhält sich dieser Umstand in dem aus dem TdU hervorgegangenen Legislativen Theater, in dem aus dem Theaterspiel hervorgegangene Vorschläge in Gesetzen verwirklicht wurden. Dies konnte jedoch nur mithilfe der autorisierten (legitimen) Rolle Augusto Boal als gewählter Stadtrat von Rio de Janeiro umgesetzt werden (vgl. Boal: 1998).

Auch in der Theaterkonzeption Augusto Boals wird impliziert, dass ‚soziale Räume’ immer ein gesellschaftliches Konstrukt sind, das sich auf verschiedene Faktoren, wie ökonomische, politische und kulturelle gründet.

 

Öffentlichkeit im TdU wird nicht erst durch die theatrale Interaktion/Performance gebildet, sondern sie wird sich (politisch) angeeignet. Natürlich darf nicht übersehen werden, dass der gesellschaftliche Raum bereits vorstrukturiert ist. In sozialtheoretischen Kategorien ließe sich hier, wie versucht wurde zu zeigen, von Schicht- oder Klassenzugehörigkeit, von Habitus und Hexis, oder der Distinktion der AkteurInnen durch die unterschiedliche Verteilung an und den Zugang zu Ressourcen sprechen. Die sozialräumliche Segmentierung führe demnach zu einer bereits ‚choreografierten’ Raumnutzung durch die sozialen AkteurInnen, die sich eben an den oben genannten Faktoren ausrichtet. Durch die ‚Ad-hoc-Dramaturgie’ des TdU wird diese Choreografie nicht geändert, aber in einen Prozess der Selbstreflexion der Teilnehmenden überführt, der in einem (spielerischen) Auffinden von Lösungsstrategien für die herauskristallisierten Problemlagen münden soll. Die Gestaltung als Aneignung des (bereits vorhandenen) Raumes wird zum konstitutiven Element des TdU, wobei der Raum mit den entsprechenden Themen besetzt wird. Die in jedem sozialen Setting angelegten Dynamiken werden durch das TdU amplifiziert. Die ‚Bühne’ wechselt dabei je nach sozialem Setting bzw. dem Ort der Afführung. Im Spiel der ProtagonistInnen kommen demnach auch ihre jeweiligen Anteile an Kapitalien zum tragen. Der ‚Tausch’ von Diskursen ist eingebunden in deren Marktwert-Beurteilung, ihre Distanz oder nähe zu den jeweils ‚legitimen’ Diskursen und die entsprechenden ‚Verkaufstrategien’ der AkteurInnen, die wiederum auf die Raumnutzung zurückwirken. Diese Beziehungen sind im TdU dem Versuch ihrer Offenlegung unterworfen. Die dabei entstehenden so genannten generativen Themen soll der Verarbeitung der Einzelsituationen im Hinblick auf die Gemeinschaft dienen.

Anders als im aristotelischen Theater wird das Ergebnis nicht vorweggenommen. Der Ausgang wird durch die SpielerInnen bestimmt. Die Gestaltung des TdU differiert insofern von der ‚klassischen’ Theateraufführung als dass deren Inszenierungscharakter nur partiell erhalten bleibt: die Kulisse(n) sind nicht fest, die Rollen entstehen ‚sur place’ und können wechseln. Die Räume von Öffentlichkeit im TdU sind in erster Linie Kommunikationsräume, die aber auch durch den wichtigen Aspekt der körperlichen Kommunikation mitgebildet werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zusammenfassung: Alltagshandeln, Theatralität und Öffentlichkeit

 

Öffentlichkeit wird mit Räumlichkeit in Verbindung gebracht – wobei diese neben dem Raumaspekt auch eine temporale Deutung erfahren kann. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive bilden sich diese ‚Räume’ durch die Interaktionen der vergesellschafteten Individuen. Die bei Goffman verwendete Theatermetapher für soziale Interaktionen trifft allerdings nur bedingt zu. Er analysierte in seinen frühen Arbeiten alltägliche Interaktionen so, als würden die AkeurInnen einander fortwährend ihre soziale Außenseite präsentieren und voreinander ‚schauspielern’. Vielmehr, so Boal, bedienen sich dagegen Menschen theatraler Mittel in der Gestaltung ihrer täglichen Interaktionen (Neuroth: 1994. S. 35). In jüngeren soziologischen Arbeiten wird darauf hingewiesen, dass das in den Sozialwissenschaften verwendete Rollenkonzept in Bezug auf interpersonelle Wechselbeziehungen als zu starr angesehen werden muss, da es den Dynamiken sozialer Prozesse zu wenig Rechnung trägt und auch nicht berücksichtigt, dass AkteurInnen Rollen wechseln, nur zum Teil übernehmen oder auch unbewusst einnehmen oder ablehnen können. Soeffner hebt bspw. stark auf den performativen Charakter sozialer Beziehungen ab. Die Grundthese ließe sich dahingehend vereinfachen, dass weniger systemische Strukturen und Funktionen das Gerüst gesellschaftlicher Zusammenhänge bilden – Soeffner spielt dabei auf starke ‚Enttraditionalisierungstendenzen’ in postmodernen Gesellschaften an, wie bspw. der Verlust von Ritualen –, als dass soziale Wirklichkeit (hier verstanden als Erfahrbarkeitskriterium der Handelnden: das, was als real wahrgenommen wird und das Entscheiden und Handeln beeinflusst) im performativen Akt des interpersonellen Austauschs generiert wird (vgl. Soeffner: 1986 und 1992). Der dabei verwendete Interaktionsbegriff rekurriert auf die Verhandlung von Bedeutungen in Kommunikationssituationen, die inszeniert und zum Ausdruck gebracht werden. Dabei spielt die mediale Vermittlung sozialer Interaktionen eine zunehmend größere Bedeutung – oder anders gesagt: Die Nutzung medialer Mittel wird durch den jeweiligen technischen Standard einer Gesellschaft bedingt, wirkt aber wiederum auch auf deren Kommunikationsstrukturen zurück, (vgl. Settekorn: 2000).

 

Das Theater Boals trägt diesen Aspekten insofern Rechnung, als dass es sich als Methode versteht, die sich den wandelnden Anforderungen anpasst,

 

„Il s’agit en fait d’une forme possible de manifestation esthétique susceptible de modifications et d’adaptions sur le moment et sur le lieu, à tout moment en tout lieu. » (Boal : 1980. S. 14)

 

Die Theatermethode Boals lässt sich in Bezug auf ihre Öffentlichkeitswirksamkeit dahingehend beschreiben, dass sie in der Lage ist, soziale Räume thematisch zu besetzen und dabei gebunden ist an deren soziale Vorstrukturiertheit. Dadurch entwickelt sich ein Kommunikationsraum, in dem die Teilnehmende durch ihre Teilhabe miteinander verbunden sind und somit eine Teilöffentlichkeit erzeugen. Wie diese Teilöffentlichkeiten im Einzelnen zu Stande kommen, wie etwa in einem bestimmten sozialen Settings (bspw. Favela-BewohnerInnen) die Theaterhandlung kommunikativ abläuft, und wie bspw. dafür bestimmte Kontextualisierungshinweise erzeugt werden, also in welcher Weise auf die Art der kommunikativen Handlung, die Situation, die soziale Identität der Beteiligten verwiesen wird, kann an dieser Stelle nicht behandelt werden und müsste Gegenstand weiter führender Untersuchungen sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografie

 

- Boal, Augusto: Legislative Theatre. Using performance to make politics. London/New York 1998.

- Boal, Augusto: Stop! C’est magique. Paris 1980.

- Boal, Augusto: Théatre de l’opprimé. Une expérience de théatre populaire au Pérou. In : Travail théâtral. Okt-Dez 1975, N° 21.

- Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort. Frankfurt/M. 1992b.

- Bourdieu, Pierre: Le sens pratique. Paris 1972.

- Bourdieu, Pierre : Sozialer Raum und Klassen. Leçon sur la leçon. Frankfurt/M. 1985.

- Bourdieu, Pierre : Was heißt sprechen ? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien 1990.

- Bourdieu, Pierre: La misère du monde. Paris 1993.

- Fischer, Ludwig: Wirkliche Öffentlichkeiten? Reflexionen mit Rücksicht auf die Kultursoziologie Pierre Bourdieus. In: Faulstich, W./Hickethier, K. (Hrsg.): Öffentlichkeit im Wandel. Neue Beiträge zur Begriffsklärung.

- Mörth, Ingo/Fröhlich, Gerhard (Hg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu. Frankfurt/New York 1994.

- Kämer, Sybille: Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Thesen über Performativität als Medialität. In: Paragrana – Zeitschrift für historische Anthropologie: Fischer-Lichte, E./Kolesch, Paris: Kulturen des Performativen, Berlin 1998; Bd. 7 (Hf.1).

- Neuroth, Sabine: Augusto Boals ‘Theater der Unterdrückten’ in der pädagogischen Praxis. Weinheim 1994.

- Schechner, Richard: Augusto Boal, City Councillor. Legislative Theatre and the Chamber in the Streets. In: TDR: The Drama Review. The Journal of performance Studies. New York / Mass. 1998: 42, 4.

- Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg 1998_.

- Settekorn, Wolfgang: Überlegungen zur Konzeptualisierung von Öffentlichkeit. In: Faulstich, W./Hickethier, K. (Hg.): Öffentlichkeit im Wandel. Neue Beiträge zur Begriffsklärung.

- Thorau, Henry.: Augusto Boals Theater der Unterdrückten in Theorie und Praxis. Hamburg 1981.

 

 

Des weiteren wurden verschiedene Textquellen aus dem Internet bezogen, die sich über größere Suchmaschinen unter den Stichworten „Augusto Boal“ oder „Theater der Unterdrückten“ leicht auffinden lassen. Wegen der Vielzahl der Einträge soll hier auf eine Auflistung der Webadressen verzichtet werden.