6. Januar 2010

Allerlei Zählbarkeiten

 

Brand eins gilt als lesenswertestes Wirtschaftsmagazin deutscher Sprache – dies durch gedankliche Frische, Weite des Blicks und sprachliche wie bildliche Fantasie. Längst hat es Auflagen von 100.000 pro Monat erreicht, kann nach schwierigen Anfängen als konsolidiert und kommerziell erfolgreich gelten. Gabriele Fischer, Gründer und Chefredakteur, führt regelmäßig den Nachweis, dass Deutschlands Unternehmer in Teilen durchaus nachdenklicher gestimmt sind, als ihnen die chattering classes zutrauen mögen.

 

So ist es kein Zufall, dass Brand eins in schöner Regelmäßigkeit Bücher wie dieses herausbringt: „Die Welt in Zahlen. 2010“. Dass dieser Band, am Umfang gemessen, nicht eben billig ist, überrascht so wenig das intelligente Layout: Dies ist altbewährter Brand eins-Standard – und entspricht der meistenteils solventen Leserschaft. Das Zahlenmaterial wurde von Statista, dem verdienstvollen – großenteils gratis zu nutzenden – Online-Portal zur Verfügung gestellt. Der stolze Preis kann alles in allem als gerechtfertigt gelten: Es kommt entscheidend auf Auswahl und Aufbereitung der Daten an. Hieran entscheidet sich, ob Zahlen erhellend wirken oder manipulativ, unterhalten oder langweilen. „Die Welt in Zahlen. 2010“ gehört in die erste Kategorie: Der Band macht verborgene Zusammenhänge sichtbar und lenkt das Augenmerk auf allerlei Seltsamkeiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Redakteure wiederum verfügen über einiges dramatisches Gespür. (Manches Mal setzt, scheint es, der Zufall durch unerhörte Nachbarschaften Pointen.) So werden auf dem Einband zwei harmlos daherkommende Statistiken geboten. Allein, sie haben es in sich:

 

Anteil der 14- bis 29-Jährigen, die sich ein Leben ohne Handy nicht vorstellen können, in Prozent: 97.

Anteil der 14- bis 29-Jährigen, die sich ein Leben ohne ihren aktuellen Partner nicht vorstellen können, in Prozent: 43.

 

Wert Konkurs gegangener Konzerne in der aktuellen Finanzkrise, in Billionen US-Dollar: 14,5

Schulden der ärmsten Länder der Welt, in Billionen US-Dollar: 0,5

Umfang des Marshallplans zum Wiederaufbau von Europa, in Billionen US-Dollar: 0,1

 

 

Gewiss ist diesen – oder anderen – Zahlen nicht zu trauen. Das Churchill (durch Goebbels?) zugeschriebene Wort, keiner Statistik möge man trauen, die man nicht selber manipuliert hat, zeigt einen Kern von Wahrheit. Brand eins spricht es recht offen aus: „Die Daten in diesem Buch stammen aus unterschiedlichen Quellen. Sie sind zum Teil Prognosen, die naturgemäß von der Realität abweichen können. Bei makroökonomischen Zahlen handelt es sich mehrheitlich um Hochrechnungen. Zur besseren Lesbarkeit haben wir Zahlenwerte teilweise gerundet. Hierdurch können bei Prozentwerten Summen entstehen, die über 100 Prozent liegen. Abschließend ist zu sagen, dass wir alle Zahlenwerte mehrfach kontrolliert haben. Dennoch ist bei der Fülle der Werte ein Zahlendreher nicht vollständig auszuschließen. Sollte das im Einzellfall passiert sein, bitten wir um Entschuldigung.“ Man hat Humor.

 

Schließlich sei darauf verwiesen – es versteht sich beinahe von selbst –, dass der größere Teil der Daten Brand eins respective Statista durch wirtschaftsnahe Institutionen wie Nato und Weltbank zur Verfügung gestellt worden sind. Auch deshalb können sie „im Einzelfall“ „von der Realität“, wie sie sich anderen als den genannten Institutionen darstellt, „abweichen“. Täuschungsabsichten brauchen Brand eins freilich nicht unterstellt zu werden. Auch generieren Nato und Weltbank weitaus mehr „Zahlenwerte“ als „die im Dunkeln“. Ein Band wie dieser kann demnach nicht anders, als Nato- und Weltbank-Werte darstellen. Kurzum: Die Frage, wessen Zahlen aufgeboten werden, muss ohne Zweifel gestellt werden, an dieser Stelle wie überall sonst. Zu tumber Kapitalismus-Fundamentalkritik und Verschwörungstheorien wider Brand eins besteht dennoch kein Anlass – dies umso mehr, als durchaus nachdenklich stimmende, entlarvende Daten geboten werden. Auch können nicht alle Quellen, darunter Hans-Böckler-Stiftung und Greenpeace als wirtschaftsnah gelten – es sei denn, wir alle seien im universellen „Verblendungszusammenhang“ befangen.

 

 

Daniel Krause

 

Brand eins/Statista [Susanne Risch/Tim Kröger]: Die Welt in Zahlen. 2010, Hamburg 2009, 22 Euro

 

de.statista.com

 

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