3. Januar 2010

Die Waffen Altchinas

 

Es ist dem westlichen Erdenbewohner völlig selbstverständlich (geworden), der Frage nach der Wirksamkeit mittels Plänen und Modellen zu begegnen. Um etwas zu erlangen, möglichst schnell, kostensparend etc., werden Überlegungen angestellt, wie man das anstellt, zum Beispiel einen Krieg zu gewinnen, eine Expedition zu starten oder einen Fünfjahresplan zu gestalten. Die Selbstverständlichkeit des Modells und des Plans verdeckt dem jeweiligen Zeitgenossen, dass er sich damit auf eine gefährliche Zweiteilung der „Wirklichkeit“ einlässt: der des Plans, und der wirklichen Wirklichkeit, die auch ohne Plan da wäre, nur vielleicht etwas anders als mit Plan. Dabei wird unterstellt, dass die wirkliche Wirklichkeit sich unter den Gegebenheiten des Plans beugen, dass sie sich nach ihm richten wird. Es ist das unbeirrbare Vertrauen in die Kontrollierbarkeit und Gestaltbarkeit der Realität, die das Modell des „Modells“ im Westen so erfolgreich hat werden lassen.

 

Gibt es denn überhaupt eine Alternative dazu? Ist das, was relativierend „Selbstverständlichkeit“ genannt wurde, nicht einfach die Wahrheit, die Faktizität des Realitätsbezugs handelnder Subjekte schlechthin? Es gibt Gründe, daran zu zweifeln. François Jullien, Autor zahlreicher Bücher über die verschiedenen – und grundsätzlich verschiedenen – Denkweisen zwischen Alteuropa und Altchina, lässt es sich nicht nehmen, immer wieder auf andere Weisen von Wirksamkeit hinzuweisen; er vermag zudem zu zeigen, dass selbst die alte Tradition westlichen Denkens die Problematik des planenden und über die Wirklichkeit gebieten wollenden Strategen oder Weisen zwar erkannt hat, daraus aber keine adäquaten Antworten zu geben vermochte. Der griechische Begriff der metis, in etwa „Klugheit“, ist für strategische Belange, so François Jullien, ganz ungeeignet, da seine Reichweite in Bereiche ausflockt, die dem Handeln des Strategen grundsätzlich entzogen sind (Zufall, Mitwirkung der Götter). Eine wirkliche „strategische Intelligenz“, so der Autor, habe allein Altchina hervorgebracht.

 

Die „Abhandlung über die Wirksamkeit“ liest sich wie eine Meditation über eben diese Intelligenz. In immer neuen Anläufen, aus verschiedenen Ansichten und mit ständiger Rücksichtnahme auf das westliche Modell wird das chinesische Denken als eines der reinen „Immanenz“ vorgestellt, ein Begriff, wie man ihn etwa auch bei Gilles Deleuze findet und wo zu überlegen wäre, wie chinesisch dieser eigenartige Philosoph war. Die grundlegende Gegenüberstellung lautet also: Dualismus versus Immanenz. Schon hier könnte man einhalten und fragen, ob denn das immanente Denken nicht auch schon ein Denken in Modellen sei. Vielleicht so: Kein Denken in Modellen, aber Immanenz gibt natürlich selbst ein Modell ab. Dieses Modell ist aber nicht fix, es arbeitet nicht mit immer schon vorher bestehenden Berechnungen, sondern ist unendlich wandlungsfähig. Man kommt hier um einen Begriff nicht herum, der in westlichen Ohren etwas Anrüchiges, ja beinah Entlarvendes hat, nämlich den der „Adaptation“.

 

Allerdings macht sich der Westen seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts damit vertraut, was es im großen, das Einzelindividuum überwölbenden Stil besagt, sich anzupassen. Gerade im linken Jargon ist „Anpassung“ immer pejorativ. Darüber hinaus landet man schnell bei der Opferrolle. Nichts davon im chinesischen Denken. Die Fähigkeit, sich an den Ablauf der Dinge (François Jullien würde sagen: „die Neigung der Dinge“) anzupassen, zeugt von höchstem strategischem Bewusstsein. Vermutlich liegen hier Welten zwischen Ost und West, je nachdem man dem Einzelnen, einer Gruppe oder was auch immer zutraut oder abspricht, den Lauf der Welt verändern zu können. In Altchina gehört es zum Klügsten, den Neigungswinkel der ablaufenden Dinge antizipieren zu können und das Handeln (oder: Nichthandeln) danach auszurichten. Die Ehre des westlichen Strategen scheint eher dahin zu gehen, den sogenannten natürlichen Verlauf zu boykottieren und ihm die eigene Handschrift aufzudrücken. Dieses Moment des Heroischen, des Freien, des durch Disziplin alles erzwingen Könnens ist vielleicht auch nur ein Mythos, gehört aber in den Bestand westlicher Wirklichkeitsbehandlungstherapien.

 

Der Chinese „hypostasiert“ den „Weg“ (tao), das ist das, was sowieso passieren wird. In Altchina kommt man nicht aus der Zukunft, gestärkt durch die Vergangenheit, auf die Gegenwart zurück, sondern man versichert sich ständig dem „Potenziellen“ der „Situation“: Die Situation hört auf, etwas Spezifisches an Bedingungen in einem größeren Ganzen zu sein, sondern die Wirklichkeit entfaltet sich allein durch den Durchlauf durch Situatives. Desgleichen ist das Konzept der „Gelegenheit“ keines, das auf den altgriechischen „kairos“ zu begrenzen wäre oder auf den glücklichen Umstand, den man vielleicht ein wenig herbeizwingen kann. Die Gelegenheit liegt in jedem Moment, und es gehört zur Strategie des Kriegers oder Weisen (aus diesem Umfeld stammen die meisten Beispiele Julliens), dem Gegner die Ergreifung der Gelegenheit zu nehmen. Die Strategie aus Altchina operiert also, um es mit einem modischen Wort zu sagen, „zeitnah“, große Pläne würden nicht weiter helfen, da die Wirklichkeit sich nicht an Pläne hält. Hier macht sich der Respekt vor Größenordnungen bemerkbar, die sich dem unmittelbaren Eingriff entziehen. Die chinesische Strategie setzt die Fähigkeit zur Empathie voraus: voraussehen können, wo „es“ lang geht, was der Gegner vorhat, wohin er ziehen wird, welche Manipulationen er vielleicht selbst zu tätigen gedenkt. Im Konzept der Manipulation scheint es Möglichkeiten zu geben, Brücken zu schlagen zwischen West und Ost, denn sowohl dort als auch hier liegt ein Interesse der Manipulation darin, ein Ereignis für jemanden so aussehen zu lassen, als sei es genau so auch von ihm gewollt, obwohl es lediglich so eingerichtet wurde, dass dieser Eindruck entstehen konnte.

 

Man hat gelegentlich François Jullien vorgeworfen, ein wenig die Gegensätzlichkeit zwischen West und Ost überspannt zu haben. Dass man es eher mit Idealtypen als mit realem Geschehen zu tun hat. Der Eindruck wird insofern bei der Lektüre des Buchs bestätigt, als hier ausschließlich vom Konzept her (Immanenz) gedacht wird. Doch wie sah es wirklich aus? Wo waren die Grenzen des Immanentismus? Wie auch immer, dieses Buch entwickelt seinen Charme gerade durch das plastische Denken von Idealtypen, und man wird vom Autor selbst immer wieder auf „Figuren“ (Personen und Gestalten) aufmerksam gemacht, die die Reinheit durchkreuzen. Eine andere Frage bleibt: Wie funktioniert das China von heute?

 

Dieter Wenk (12-09)

 

François Jullien, Traité de l’efficacité, Paris 1996 (Éditions Grasset & Fasquelle) ; Über die Wirksamkeit, Berlin 1999 (Merve)