3. Januar 2010

Ein Blick in den Abgrund

 

Manche Autoren machen es dem Leser relativ leicht, eine bestimmte Haltung zu sich einnehmen zu lassen. Thomas Bernhard zum Beispiel. Man wird süchtig nach ihm oder fängt erst gar nicht richtig an. Kafka gehört wohl auch zu diesen Autoren ebenso wie Thomas Mann. Andere Autoren müsste man eigentlich im Gesamtpaket nehmen, werden aber nur gewissermaßen regional präsentiert, Céline etwa. Früher oder später muss man sich auch mit seinen antisemitischen Pamphleten „anfreunden“, auch wenn sie momentan nicht ediert werden (im Netz wohl). Wieder bei anderen Autoren ist es keine Frage der Edition oder des fehlenden oder erschwerten Zugangs, dass man sich fragt, was es eigentlich ist oder war, was sie so einmalig macht(e).

 

Georg Büchner ist so ein Autor, der es in seiner extrem kurzen Zeit des Schreibens vollbrachte, Gegensätze so ineinander zu verschränken, dass man sich selber nicht mehr auskennt darin, was es jetzt war, dass einen so faszinierte. Büchner spielt den Sozialrevolutionär gegen den Nihilisten aus. Oder umgekehrt. Aber auf welcher Ebene? Personal, abseits der Texte? Oder in ihnen, aber als bloße Versuchsanordnung, ohne dass der Leser den Autor Büchner dingfest machen könnte? Büchner ist wie Céline ein Autor des Knotens, des Verknotens. Es sind Schriftsteller, die auf Intrige spielen, ohne dass dieses Spiel sinnvoller Weise sich textimmanent begrenzen ließe. Vielleicht ist es das, was Büchner auch als Schulbuchautor so erfolgreich sein lässt. Büchner taucht nach Textende auf zum Beispiel als Briefschreiber oder als Aktivist. Oder eben auch als Nihilist. Auf der einen Seite ein heftig Partizipierender („Der Hessische Landbote“), auf der anderen Seite ein kühl Reflektierender, Sezierender („Über Schädelnerven“, anders genannt: „Probevorlesung“). Manchmal sprengt die Polarität den Text selbst auf: „Danton’s Tod“, Büchners einziger zu Lebzeiten veröffentlichter literarischer Text (Büchner starb mit 23 Jahren an Typhus in Zürich).

 

Man kann sagen, dass Büchner der älteste der entschieden modern klingenden Autoren ist, er starb gerade einmal 5 Jahre nach Goethe, doch mit dem „Woyzeck“ landet man direkt im Naturalismus, ohne dass dieser grandiose Text darin aufginge. Erst 1913, 100 Jahre nach Büchners Geburtsjahr, wurde dieses Fragment uraufgeführt. Das lag einerseits daran, dass „Woyzeck“ zunächst gar nicht zum Editionskonvolut gehörte. Dieses Werk existierte also praktisch gar nicht. Andererseits ist dieses Fragment eines der Geniestreiche, die gerade aufgrund der Editionslage den Editor und den nachmaligen Regisseur und Dramaturgen vor nahezu unlösbare Aufgaben stellen. Als Schüler, der mit Reclam-Ausgaben sich aushalf, bekam man davon so gut wie nichts mit. Aber es ist schon erstaunlich, dass bis auf den heutigen Tag keine historisch-kritische Ausgabe dieses eigentlich ja doch sehr bescheidenen Textkonvoluts existiert.

 

Erst in den letzten beiden Jahrzehnten beginnt man, in zwei unterschiedlichen Publikationen, dem Chaos, das Büchner zurückließ, gerecht zu werden. Unleserliche Handschriften, Dialektismen, die vielleicht in einer späteren Fassung noch ausgemerzt worden wären oder gerade auch woanders zu unterstellen wären, die Unmöglichkeit, auf Handschriften zurückzugreifen. Wie sehr hatte man sich zum Beispiel an diesen wunderbaren Anfang des „Lenz“ gewöhnt: „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.“ Hierzu kann man in diesem Handbuch Folgendes lesen: „Diese falsche Textkonstitution überlebt dank digitaler Bibliotheken wirkungsvoll bis heute, z.B. auf den Seiten der hoch frequentierten Internetbibliothek ,Projekt Gutenberg.de’, die auf der veralteten Goldmann-Ausgabe beruht, oder auf der viel benutzten CD-ROM ,Digitale Bibliothek 1. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka’, die die überholte Ausgabe Lehmanns reproduziert.“

 

Wer sich mit Georg Büchner beschäftigt, kommt an dieser Frage nicht vorbei: Mit welchen Texten haben wir es eigentlich zu tun, wenn wir Literatur lesen. Warum sollte man Schüler nicht mit dem Problem konfrontieren, dass man schließlich nicht weiß, wie ein Text „richtig“ zu lesen ist (und zunächst: zu edieren). Georg Büchner bietet die großartige Gelegenheit, die sogenannte Unschärferelation in die Literatur einziehen zu lassen. Und zwar auf allen Ebenen, editorisch, interpretatorisch, klassifikatorisch, evaluatorisch. Dieses Handbuch schärft den Sinn für eine wieder zu gewinnende Distanz zu vorschnellen Verortungen. Zum Beispiel, indem es davor warnt, etwa das Fragment „Lenz“ als antizipierende Analyse dessen zu betrachten, das später als Schizophrenie bekannt geworden ist. Hier heißt es erst einmal schauen, mit was für einer Medizin Büchner und seine Zeitgenossen sich herumschlagen mussten. Oder: Muss man wirklich im Falle von „Danton’s Tod“ die Kategorie der Montage bemühen, oder sollte man nicht doch erst einmal schauen, wie weit man mit dem guten alten „Zitat“ kommt?

 

In vier Großabschnitten nähern sich die gut 40 Autoren dem Ereignis „Büchner“. Zunächst wird das „Werk“ vorgestellt, von den „Schriften aus der Schulzeit“ bis zu den genialen Briefen. Dann wird das Werk auf bestimmte kulturelle und wissenschaftliche Aspekte abgeklopft („Geschichte und Revolution“, „Militär und Polizei“, aber auch schon foucauldianisch: „Biopolitik“); in einem dritten Abschnitt geht es um ästhetische und poetische Fragen wie „Dokumentation und Fiktion“ oder „Wissenschaftliches und literarisches Experiment“. Das vierte Kapitel widmet sich der Rezeption einschließlich der Institution, die als Büchner-Preis seit 1923 bekannt geworden ist (1933-1944 wurde der Preis nicht vergeben). Die Frage nach dem „Original“-Büchner wird man sich nach Lektüre dieses Buchs vermutlich anders stellen als – wenn überhaupt – vorher.

 

Dieter Wenk (12-09)

 

Roland Borgards/Harald Neumeyer (Hrsg.), Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart-Weimar 2009 (J.B.Metzler)

 

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