27. November 2009

Erst lesen, dann schreiben

 

Der Schriftsteller Pierre Guyotat wird Anfang 1940 im Südosten Frankreichs geboren, seine Familie ist katholisch, alteingesessen, gebildet, aber ohne Vermögen. Der Vater ist Landarzt. Es ist die Zeit des „drôle de guerre“, der Aufteilung Frankreichs in eine besetzte und eine sogenannte freie Zone, die nicht sehr lange frei bleiben wird. Viele der Verwandten Pierres sind Soldaten und/oder Mitglieder der Résistance, ein Onkel wird von den Deutschen gefasst, gefoltert, ermordet.

 

Die Erzählzeit von „Formation“ ist das Präsens. Das irritiert des Öfteren, denn die militärischen Geschehnisse werden mit der Seele eines 1- oder 3-Jährigen kurzgeschlossen. Also Familien-, Sozial- und Kriegsgeschichte, mit all den Beschreibungen der Orte, der Wohnungen. Der Schreibstil (klassisch, gediegen, abgeklärt) verträgt sich wie gesagt nur schwer mit der Perspektive der doch sehr jungen Person. Andererseits wird so die unvermeidliche zeitliche Distanz aufgebrochen und eine scheinbare Unmittelbarkeit hervorgerufen.

 

Es ist, als ob der Erzähler nur deshalb so präsentisch agiert, um die Sätze sofort in Vorstellung, Bild, Bildsequenz umzuwandeln. Deshalb auch die langen Beschreibungen der Orte, die vielen, manchmal etwas ermüdenden Aufzählungen von Dingen. Es ist, als ob damit die Sprache durch die Umwandlung ins Bild eine Karenzzeit erführe, die erst später, mit der eigenen Sprachwerdung des Kindes und des bald erwachenden Interesses für Literatur und Lesen, nahtlos überführt würde in die eigene Sprachfindung und später in Schreibübungen, die das Kind und der Jugendliche nicht mehr loslassen wird.

 

„Formation“, das ist neben der manchmal tragischen Familiengeschichte auch eine Selbstwerdung mit und aus Literatur, deren Titel je nach erreichtem Alter ausgiebig zitiert werden. Zum Beispiel der „Abwrackunternehmer“ Léon Bloy, der von Pierres Großvater mütterlicherseits sogar finanziell unterstützt wurde: „Von Léon Bloy besitzt meine Mutter in ihrer Bibliothek in Bourg-Argental La Femme pauvre [Die arme Frau], die ich an einem regnerischen Nachmittag beginne zu lesen: Die wenigen Seiten, die ich lese, machen mir so viel Angst, dass ich mit Macht darauf warte, dass endlich der Regenbogen mit der Sonne erscheine, damit die Farben der Welt wieder leuchten…“

 

Mit knapp zehn Jahren besucht Pierre ein katholisches Internat, etwas später wird er den Jesuiten überantwortet, allein das geht nicht gut. Der Körper erwacht, mit all dem Unbehagen, der Faszination. Ein Thema für ein ganzes Leben, zumindest für ein ganzes Buch („Éden, Éden, Éden“). Die ersten Schatten des Algerienkrieges werfen sich auf Frankreich. Nach dem Zerbrechen des französischen Imperiums in Übersee (Indochina) ein letzter verzweifelter Versuch, das Territorium Frankreichs über die eigentliche Landesgrenze auszudehnen. Pierre Guyotat wird mit diesem Krieg nicht glücklich werden, doch das ist bereits eine andere Geschichte. In Vorbereitung ist „Formation 2“.

 

Dieter Wenk (11-09)

 

Pierre Guyotat, Formation, Paris 2009 (Gallimard)


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