6. November 2009

After the Show

 

„Das Buch gleicht einem poetischen Index, mit Aphorismen, kurzen Abhandlungen, Glossen und Aussprüchen, die bereits auf seine endgültige Abkehr von der Literatur hinweisen.“ (Klaus Ferentschik) Die „Euphorismen“ zeigen Spuren der Lektüre Rimbauds, gleichwohl findet sich darin kein Bekenntnis im Sinne der Entscheidung Rimbauds, der Literatur ein für allemal den Rücken zu kehren. Die Schnippsel Tormas, von anderen zusammengetragen und veröffentlicht, zeugen von der Schwierigkeit, die Radikalität von Autoren wie Rimbaud und Lautréamont – Autoren, die ein anderes 19. Jahrhundert repräsentieren als das einer realismusgesättigten Epoche – fortzusetzen oder zu überbieten. Rimbaud, der aufhörte zu schreiben und nach Afrika ging. Lautréamont, der seinen „Les Chants de Maldoror“ die eher unbekannten „Poésies“ folgen ließ, einen Text, von dem man fast annehmen könnte, er sei die Folge eines Ablasshandels. Eine Klammer tut sich in beiden Fällen auf, die zu keiner Geburtshilfe mehr taugt. Einschüchterung, Resignation? Vielleicht die Einsicht der auf den Schultern von Riesen Stehenden, dass sie noch nicht einmal bis zu den Ohren aufragen.

 

Tormas „Euphorismes“ stammen aus dem Jahr 1926. Zwei Jahre zuvor rief André Breton den Surrealismus offiziell aus. Torma mochte die Surrealisten nicht besonders: „Die Surrealisten von heute stellen mit geschlossenen Augen nicht gedeckte Schecks aus auf ein erschlichenes und bis an die Grenzen des Nichts belastetes falsches Erbe.“ In der Wortwahl etwas anders, warf ein paar Jahre später auch Clement Greenberg den Anbetern des Unbewussten unverhohlen Akademismus vor. Tormas Euphorismen wirken wesentlich frischer als die mittlerweile doch etwas angegrauten Scheinwelten der alten Pariser Schule. Auch wenn man sie nicht unbedingt mag oder sie vielleicht manchmal überhaupt nicht versteht – sie, die Euphorismen, behaupten dem Leser gegenüber eine Souveränität, die zumindest Respekt einfordert.

 

Gerade weil Torma überhaupt keinen Wert darauf legt, gelesen, verstanden, unterstützt oder bekämpft zu werden. Er ist ein Autor, dem gar nichts mehr passieren kann. Der keine Rücksicht nimmt, ohne deswegen peinlich zu sein oder rabiat. Alle diese kleinen Texte sind mit nichts als seiner, Tormas eigenen Haltung vermittelt. Einer Haltung, die durch nichts mehr erschüttert werden kann. „Ich, der ich durch die Vernunft nicht befangen bin, empfinde keinerlei Notwendigkeit, über das Irrationale und das Absurde getröstet zu werden, die ich im Gegenteil sehr sympathisch finde und überhaupt viel lustiger.“ Und doch ist dieser Autor nicht das, was man cool nennen könnte. Dazu passen nicht seine Verdrehungen und Überdrehungen. Manches wiederum ist zu kurz, um cool zu sein. Der Leser wird kurzzeitig erschöpft vom Ideenstau eines wunderbaren Aphorismus’: „Hunger rechtfertigt den Mittelstand.“

 

Während der typische Surrealist Amok läuft oder zumindest überall herumläuft mit seinem „épater le bourgeois“, bietet Torma scheinbar Rechtfertigungshilfe, aber eben nur scheinbar, denn will sich der Mittelstand über den Hunger definieren lassen? Hier klafft ein Abgrund, in den der Mittelstand nicht wagt, hineinzusehen. Torma wirkt unerbittlich, ohne dass man sich ihn mit zusammengekniffenem Mund vorstellen müsste. Er ist herrlich intelligent in der Untergrabung vermeintlicher Gegensätze. „Für den Optimist ist alles gut: zur Harmonie gehören all diese Störungen, Stupiditäten und Nichtigkeiten. Was für ein Pessimist!“ Und weiter: „Für den Pessimist muss alles viel besser sein: er scheint zu glauben, dass man das Universum anders als absurd und den Menschen anders als mittelmäßig begreifen kann. Was für ein Optimist!“ Die Sprüche in Walter Serners „Letzten Lockerung“ dienten letztlich der Fortifikation des Lesers (und des Schreibers). Die Euphorismen Tormas stehen schon jenseits der Mitteilungspflicht. Man spürt bei den meisten der kleinen Texte, dass die eigentlich notwendigen Anschlussstecker herausgezogen wurden. Sie laufen mit Notstromaggregat, das sich aus der Bereitwilligkeit des Lesers speist. Das ist phänomenal und insofern dann doch mit das Coolste, was man überhaupt lesen kann.

 

Dieter Wenk (10-09)

 

Julien Torma, Euphorismen. Fragmente und Äußerungen gesammelt von Jean Montmort. Aus dem Französischen und mit Anmerkungen sowie einem Nachwort versehen von Klaus Völker, Berlin 2009 (Matthes & Seitz Berlin)

 

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