1. November 2009

Die andere Seite

 

Wie modern die zahllosen Ismen des Anfangs des letzten Jahrhunderts auch waren, einen blinden Fleck findet man immer: Durch die Bank weg arbeiten relativ wenig Frauen an der Front, sei es Kubismus, Futurismus (gerade da auch schwer vorstellbar), Dadaismus (hier gibt es mehr Platz, Hannah Höch zum Beispiel) oder Surrealismus, das französische Nachfolgemodell von Dada. Spontan werden einem kaum Namen einfallen von Frauen, die man ähnlich wie Dalí oder Magritte dem Surrealismus zuschlagen würde. Deshalb ist der Titel dieser Publikation auch klug gewählt.

 

Zum einen weist er darauf hin, dass der Surrealismus eine Männerdomäne war. Zum anderen wird dadurch klar, dass der Surrealismus für Frauen eine mehr oder weniger lange Passage bedeutete. Dass die surrealistischen Männer eine eigenständige Frauenriege nicht unbedingt wünschten, ist bekannt. Frauen im Surrealismus gehören ganz und gar dem Imaginären an, als Wunschgebilde, Musen und ideale Gestalten. Eine Persönlichkeit wie Claude Cahun, eine Lesbierin zudem, hat auf diesem Feld nichts zu suchen, die Träume zumal André Bretons gingen dann doch in eine andere Richtung.

 

Die Autorin stellt zehn Frauen vor, die sich als Künstlerinnen „im Surrealismus“ einen Namen gemacht haben, sei es als bildende Künstlerinnen oder als Schriftstellerinnen. Die schon erwähnte Claude Cahun (eigentlich Lucy Schwob) stellt vermutlich die radikalste Position dar, da es ihr nicht nur darum ging, eingespielte Künstlerrollen, sondern auch diese fundierende Geschlechterrollen über den Haufen zu werfen. Fotos und Abbildungen belegen das sehr anschaulich, und man merkt schnell, wie sehr so manche spätmoderne Künstlerin auf diesen Pionierarbeiten aufbauen konnte (zum Beispiel Cindy Sherman).

 

Die Künstlerin Dorothea Tanning wird eben nicht nur als soundsovielte Gattin von Max Ernst vorgestellt, sondern als eigenständige Künstlerin, die wirklich gute Sachen machte (etwa „Endspiel“ von 1944). Ob allerdings die im surrealistischen Fach arbeitenden Künstlerinnen den Mythos vom „Ganzen Körper“ anbeteten, den die männlichen Kollegen angeblich angetreten waren zu unterminieren, wird in diesem Band zwar behauptet, ganz überzeugt die These jedoch nicht, auch wenn man sich nur das vorgelegte Bildmaterial anschaut. Dorothea Tannings „Spannung“ (1942, hier nicht abgebildet) wäre ein gutes Gegenbeispiel, hier schauen die extrahierten Augen ein Gesicht an, von dem nur noch die wallenden Haare übrig geblieben sind.

 

Wenn der Surrealismus eine experimentelle Veranstaltung war (was manche wie Clement Greenberg bezweifeln), dann gehört wohl auch dazu, nicht in erster Linie von Sicherstellungen auszugehen wie dem „Ganzen Körper“. Im Übrigen ist man mit dem Pendant, dem „zerstückelten Körper“, ja sofort auf einem Gebiet, der (Lacanschen) Psychoanalyse, das die Phantasie eines „Ganzen Körpers“ als illusionär verwerfen würde. Heile Welten, so viel wird in diesem Band klar, produzieren auch die hier vorgestellten Frauen nicht, man sehe sich nur Dora Maars großartiges „Bildnis von Ubu“ von 1936 an, da steckt schon der wenn nicht ganze so doch partikulare David Lynch drin („Eraserhead“). Oder „Die Schlafwandlerin“ von Toyen (1957), das ist schon eine Vorwegerinnerung an Chiharu Shiotas „Erinnerung der Haut“ (Memory of Skin) aus dem Jahr 2001.

 

Außer den schon genannten Künstlerinnen werden noch Lee Miller, Meret Oppenheim, Leonor Fini, Leonora Carrington, Kay Sage und Unica Zürn vorgestellt. Eine gute Gelegenheit, Geschlechterfelderwirtschaft zu betreiben.

 

Dieter Wenk (10-09)

 

Karoline Hille, Spiele der Frauen Künstlerinnen im Surrealismus, Stuttgart 2009 (Belser)