Durch die Kulissen gestolpert

 

Natürlich ist es immer toll, wenn man an einem Ort ist und meint, an einem ganz anderen Ort zu sein. Oder sein zu können. Das funktioniert seit Jahrhunderten im Theater und in anderen geschlossenen Räumen, an denen einem etwas vorgegaukelt wird, in Dioramen oder Panoramen oder im Kino. Das entspannt, zumindest Teile des Ichs, und unterhält. Es funktioniert auch sehr gut auf Kunstausstellungen.

 

1. Tag

 

Kaum die Giardini betreten, lockt uns ein „For Sale“-Schild, ein Haus zu kaufen, das die ehemaligen Besitzer abstoßen müssen, offensichtlich schnell, denn viele Möbel stehen noch darinnen, und Bilder hängen an den Wänden, die uns ganz gut gefallen. Als wir alles angeschaut haben, nehmen wir doch wieder Abstand vom kurz aufgeflammten Wunsch, diese wunderhübsche Villa („Padiglione Danese“) zu besitzen, nachdem wir die hinteren Kammern gesehen haben, die ein bisschen gruselig wirken, ein äußerst defektes Treppenhaus (hätte man das nicht richten können?), und überhaupt: Viel zu wenig Abstellfläche. Gegenüber ist auch was frei, auch wohl erst seit ganz kurz. Vor dem Eingang sehen wir den offensichtlich ehemaligen Besitzer dieses modernen Bungalows (irgendwie nordisch), mit dem Gesicht nach unten im Swimming-Pool treiben, Schuhe mit Zigaretten liegen unversehrt am Beckenrand. Vermutlich haben die Bediensteten noch nix vom Ableben des Chefs mitbekommen – oder vielleicht doch, so wie die sich in den herrschaftlichen Sesseln fläzen, halbnackt.

 

 

 

 

 

C. und ich verlieren die Orientierung, wo wir sind, ist das nun eine Hausschau (gibt es auch Mietangebote? Auch temporär?). Auf der Suche nach einem aufmunternden Getränk enden wir auf den Spuren einer Leuchtschrift im Gebüsch. Als wir den Neon-Wörtern einmal um das Gemäuer gefolgt sind, stellen wir fest, dass wir es mit einem veritablen Ausstellungspavillon zu tun haben. Na ja, zumindest sollen wir das wohl denken. Hier gibt es Bruce Nauman zu sehen, Händeskulpturen und Fountains. Und der Imbiss ist gleich daneben.

 

„You simoultaneously enter the Pavilion and a cage“, heißt es ganz richtig in der Katalogbeschreibung des französischen Pavillons. Meine Begleitung (schwanger!) hält es auf der Fortsetzung unseres Rundgangs nicht lang in dieser Art der Erfahrung; einmal durch Claude Lévêques Disco-Käfig-Gang gelaufen („Movements restricted, constrained sensations“), bzw. 3 Gänge („There reigns dusk and obscurity where reflections are crumpled“) und gesehen: ah, am Ende immer die schwarze Fahne im Ventilatorwind („Are the black flags quivering in the distance the rising image of a radical hope, of a possible other world?“).

 

Schwangere sollten nicht zu viele Simultanerfahrungen machen. Wir suchen zur Rast das preisgekrönte von Tobias Rehberger gestaltete Café im Padiglione Italia auf. Ganz schlechte Idee, gleich wieder raus.

 

 

 

 

 

Da wir schon mal da sind, begehen wir den Pavillon. Aus Erfahrung weiß ich, dass es im Tiefparterre etwas zum Sitzen gibt, schön kühl und ruhig, meist mit Film oder Video (oder Dia, es gab hier mal eine schöne Robert-Gober-Installation). Noch vertraut mir C. (ist auch erst im fünften Monat, dem Reisemonat, wie sie sagt).

Es stellt sich dann heraus, dass es im Tiefgeschoss doch keine Sitzgelegenheit gibt oder dass man sie zumindest in der Dunkelheit nicht finden kann. Man sollte auch nicht zu sehr danach suchen, denn überall stehen große Pflanzen, von denen man weiß, dass man sie nicht anfassen soll. Vielleicht dient die Warnung aber auch dem Schutz der Besucher, denn die Gewächse sehen sehr fleischfressend aus. Das sollen sie wohl auch, denn das passt gut zu dem halben Dutzend Videos, das auf Monitoren im halbdunklen Dschungel läuft. Um die Fleischeslust ging es Natalie Djurberg ja schon in ihrem Film „Tiger licking Girls’ Butt“, ganz ohne Environment auf der Berlin-Biennale 2006 zu sehen. Obwohl meiner Begleitung ovviamente die Blüten-Samen-Thematik nicht fremd ist, stolpern wir auch hier schnell aus den Kulissen.

 

 

 

 

 

 

 

Kulissen (von französisch coulisse, Schiebewand) sind Teile der Dekoration bei Theateraufführungen oder Filmaufnahmen. In historischen Bühnenbildern waren das meist parallel zur Rampe stehende, mit bemaltem Stoff oder Papier bespannte Holzrahmen. Bühnenbilder moderner Theater bestehen aus vielfältigen Objekten und Materialien, die meist nicht Kulissen genannt werden.

historische Bedeutung [Bearbeiten]

Kulissen unterstrichen in traditionellen Theatern die Handlung durch einen künstlichen, meist modellhaften Hintergrund, die dem Ort der Handlung entsprach. Sie konnten auch bestimmte Symboliken transportieren, z.B. eine Farbsymbolik. Kulissen konnten sogar ganze Gebäudefassaden oder Straßenzüge (Lindenstraße bei GFF Köln) sein.

Im Theater wurden Kulissen von den Werkstätten nach den Entwürfen des Bühnenbildners hergestellt, beim Film von der Baubühne nach Angaben des Szenenbildners.

Bei Szenenwechseln wurden die Kulissen meist hinter geschlossenem Vorhang umgebaut.

 

 

2. Tag

 

Arsenale. C. hat sich erholt. Es beginnt alles ganz normal. Erst ein dunkler Raum, Drähte sind im Raum verspannt und ergeben zusammen mit Licht Skulpturen (Lygia Pape), dann ein heller Raum mit Pistoletto-Spiegel, in einem der intakten fotografieren wir

uns. Dann die Installation des Kameruners Pascal Marthine Tayou, „Human Being“. Die Verwirrung ist groß, als ich nicht die Postkarten aus dem Ständer nehmen darf, wie mir die eilig herbeigelaufenen Aufseher lautstark mitteilen (das ist C. peinlich), obwohl ich doch nebenan bei Aleksandra Mir förmlich gezwungen wurde, mir ihre Fake-Ansichtskarten mitzunehmen, die aus Venedig eine Wildwasserkulisse machten.

 

 

 

 

 

 

C. braucht ein wenig Tageslicht und setzt sich ins Freie, ich brauche noch ein wenig Dunkel und setze mich in die Kinokabine von Keren Cytter, und das Thema der Biennale, bislang nur undeutlich fassbar, scheint sonnenklar.

In einemTheater; es geht um eine unselige Familienkonstellation, der Vater will mit einer anderen Frau, die Mutter beruhigt das quängelnde Kind (indem es ihm Rauch ins Gesicht bläst, naja), dann wird sie vom Personal ermahnt, nicht hinter der Bühne zu rauchen, was dem Betrachter bedeutet, dass es sich hier um Schauspieler handelt, die einen Konflikt spielen, in dem sie aber irgendwie auch selbst stecken. Worte, die die Zuschauer nur hören sollen, werden ohne Gestik hinter der Bühne, IN DEN KULISSEN, gesprochen, dabei starren sich die beiden Jungen ausdruckslos an, während der eine den anderen lauthals bei den Erwachsenen verpfeift. Wieder raucht sich Caroline Peters durch die Requisite, und als sie auf ihre Bitte „Sag mal was Positives“ zum zweiten Mal die Antwort „Aids“ bekommt, merke ich, dass diese Theaterwelt sich verloopt hat. Aha, das ewige Spiel, wieder rein in den Konflikt, mal auf der Bühne, etwas sein, mal dahinter, auf der Suche nach Positivem. Aber ist der unglückliche Junge nicht etwas aggressiver als vorhin? Welche Streiche einem die Erinnerung spielt. Ein Schuss; ne, also doch nicht. Kein Loop. Caroline Peters tot.

 

 

 

 

 

Mein Verdacht, was das Motto angeht, bestätigt sich in den Hallen des Arsenale Novissiomo. Wir dürfen, auf Holzstegen schlendernd, große Bühnenbilder betrachten. Das Setting erinnert ein wenig an eine Reithalle, wo die Tribüne im sicheren Abstand zu den Pferden über dem Parcours liegt; in diesem Fall soll aber möglicherweise der Mann mit der Schaufel vor Helfern geschützt werden, die ebenfalls versuchen könnten, in Herrn Fabres überdimensionertem Hirn zu graben.

 

 

 

 

 

3. Tag

 

(C. hat eine Krise. Wenn nun was dran ist an der vorgeburtlichen Prägung? Schließlich ist das Kleine nun mehrfach eingeschlossen, wie die Matrjoschka-Kernpuppe: erst im unerklärlichen Mutterleibs-Darkroom, in dem es sich gerade mal herumdrehen darf; als Nächstes in seltsamen Showrooms, jedenfalls auch mit wenig Bewegungfreiheit, und zu guter Letzt das alles in einer Fruchtblasenstadt mit sinkbaren Ambulanzen; ohne Emergency Room. Ich wende das Stadtmotiv ins Positive, wir lassen uns ein paar Runden vom Vaporetto wiegen, bevor wir noch mal bei den Giardini andocken.)

 

Wieder ist es nichts mit Kunst. Im britischen Pavillon ist ein Kino, in dem wir die Umgebung sehen, durch die wir eben noch gestiefelt sind, der tschechische Pavillon ist ein Gewächshaus und der deutsche eine Ikea-Versuchsanstalt.

 

C. nimmt mich ins Verhör. Schließlich ist es meine Rolle als Künstleronkel, den (ständig) nachwachsenden Generationen die moderne Kunst nahezubringen. Verkleidet sie sich heute nur noch? Der holländische Pavillon als Relax-Center mit Videobespielung, eine preistragende Gesamtinstallation, die ein Café ist etc. etc. ?

 

So herausgefordert, offeriere ich das geheime Kulissenmotto – und verteidige es, teilweise. Z. B. den britischen Pavillon. Während ich im vom Außen abgedunkelten, abgeschotteten, klimatisierten Raum Steve McQueens in Nahaufnahmen Schnecken, Hunde und menschlichen Besucher – tags Damen, nachts Männer – sehe, die diesen Lebensraum benutzen, wie man das eben mit einem Park tut: um herumzukriechen, schnüffeln, laufen, streunen, suchen, entblößt sich die ganze Kunstpossi da draußen als Kulisse. Wir sind hier auf einem Event. Während ich da sitze, weiß ich, dass ich da sitze, und die venezianischen Gärten sind ganz nah, ich bin nämlich mittendrin, und doch ist das, was ich sehe, fern, in dem Spalt dazwischen, hier ein zeitlicher, öffnet sich eine Vielheit. Und ähnlich hat Roman Ondak im tschechisch-slowakischen Pavillon die Verhältnisse umgedreht: Was sucht ihr eigentlich hier drin? Sucht doch draußen, anderswo, besser: überall, denn im Ausstellungsraum wuchert dieselbe Fauna wie davor. Und so funktioniert es ja auch bei anderen Positionen, wenn etwa Lygia Papes Draht-Licht-Situation andeutet, was es da noch alles zu sehen gäbe (wenn nur das Licht hinschiene). Oder Hans-Peter Feldmann, der ein Schattenuniversum aus Plastikflaschen und allem möglichem Krimskrams schafft. Und Baldessari mit einer Palmenkulisse, die mal kurz einen ganz anderen Ort vorgaukelt. Auch schön die bunten Glasfenster von Spencer Finch, die Tageslichtsituationen anderer Orte wiedergeben.

 

Der Unterschied bei der Kulissenschieberei: Im einen Fall weiß ich, dass ich da sitze bzw. stehe und nur die Kulissen sich bewegen (oder auch nicht). Und das Verhängnisvolle an dieser Distanz zwischen meinem Sitzpunkt und dem Projizierten darf ungehindert als Erkenntnisschweiß aus den Poren treten – selbst in klimatisierten Räumen. Im andern Fall saugen mich die Kulissen auf und machen mich zur Requisite. Ich scheine das Bühnenbild erst vollständig zu machen, wenn ich das Haus besichtige, zwischen fleischfressenden Pflanzen irre, einen geheimen Friedhof entdecke: auch das kann schwitzen machen.

 

Beim Rausgehen passieren wir die Leiche, die ans andere Ende des Bassins getrieben ist, das Wasser heute: gelb. Und als Nächstes gehen wir mal richtig ins Kino: Ice Age 3 mit 3-D-Brille – das ist cool!

 

Stefan Moos