30. September 2009

Kurz vor Kant

 

Der Autor des „Anton Reiser“ nutzt in dieser kleinen und frühen Schrift (1785) die nicht von ihm selbst zu verantwortende Einführung einer neuen Leitunterscheidung, um von ihr ausgehend, sie neu interpretierend, einen ganz eigenen Versuch zu unternehmen, der allerdings nichts weniger ist als der Beginn – noch vor Kant – der Autonomieästhetik, auch wenn Moritz das selber nicht so nennt, aber das Phänomen des gewissermaßen zurückeilenden Begriffs kennt man ja auch am Beispiel der Avantgarde. Und man könnte diesen Text mit dem langen Titel beinah ein Manifest nennen, würde man dabei nicht sofort an die Brutalismen der Futuristen denken, die in diesem Fall, bei Moritz, ganz abwegig wären (zumindest was diesen Text angeht; vergleiche aber auch unten!).

 

Auf jeden Fall reibt man sich die Augen, wenn es im ersten Satz des Aufsatzes heißt, „man“ (es handelt sich um den Aufklärer Moses Mendelssohn) habe den „Grundsatz von der Nachahmung der Natur, als den Hauptendzwek [sic] der schönen Künste und Wissenschaften verworfen“. Zum einen handelt es sich hier um eine frühe Datierung der Aufgabe eines seit der Antike waltenden ästhetischen Prinzips (Mimesis), zum anderen muss man feststellen, dass diese Bemerkung Moritz’ nicht so ganz folgenreich gewesen ist, dass man also sehr wohl, und zwar fast noch ein ganzes Jahrhundert lang, an eben diesem Prinzip der Nachahmung, festgehalten hat. Hat man hier die Chance einer ganz anderen Kunst verpasst?

 

Wenn man sich anschaut, was an die Stelle der Nachahmung getreten ist, muss man diese Frage wohl verneinen. Denn es sei das „Vergnügen“, das von nun an den Hauptzweck der Kunst ausmache. An dieser Stelle setzt Moritz an, um seinerseits eine Gabelung vorzuschlagen, denn das Vergnügliche würde sich auch und vor allem beim sogenannten Nützlichen bemerkbar machen. Man müsse also weiter unterscheiden zwischen dem Schönen und dem Nützlichen und auf die Art und Weise schauen, wie diese beiden Erfahrungen sich hinsichtlich des Vergnügens unterscheiden. Die Argumentation Moritz’ ist vorlaufend klassisch, denn die folgenden Absätze lassen bei dem, der Kants dritte Kritik ein wenig gelesen hat, Erinnerungen abrufen, was die Begrifflichkeit angeht, aber auch in Bezug auf die Situierung des Schönen selbst. Es wird zum Beispiel zwischen äußerer und innerer Zweckmäßigkeit unterschieden und das Schöne beschrieben als das, was um seiner selbst willen besteht. Die Teleologie des Schönen ist ihm selbst (dem Schönen), wenn man will, immanent. Das heißt: Das Schöne ist.

 

Das wiederum trennt Moritz von Kant. Also sein Objektivismus. Nur weil das Schöne wirklich schön ist, können wir uns in ihm verlieren, das heißt für die Dauer dieses Erlebnisses von uns selbst absehen, um die Eigenart des Schönen in seiner Unvergleichbarkeit mit Natur und anderem Schönen und Schlechten singulär zu fassen. Während Moritz Beispiele für das Vergnügliche am Nützlichen gibt, bleibt es bei der Bestimmung des Schönen als in sich Vollendeten abstrakt bei dieser Formulierung. Es werden auch keine Namen genannt hinsichtlich der Produktion des Schönen (sodass auch das „Naturschöne“ hier noch seinen Platz fände). Auch was es heißen könnte, in sich selbst vollendet zu sein, wird hier nicht näher auseinander gesetzt. Etwas trocken ist vom „Gegenstand“ die Rede, der in sich selbst vollendet sei, und es muss eine gewisse Gewalt von diesem Gegenstand ausgehen, denn immerhin „wälze ich“ bei der Betrachtung des Schönen „den Zwek (sic) aus mir in den Gegenstand selbst zurük (sic)…“

 

Das Schöne ist also nicht nur einfach so objektiv am und im Gegenstand, es hat auch noch die Kraft und Gewalt, eben diese Schönheit als diese Schönheit jedem anzutun: Man ist hier denkbar weit entfernt von einer subjektiven Kunsterfahrung, nach der man selbst das Werk „mache“ (Duchamp als Klimax einer solchen Einstellung). Das Schöne steht auch gar nicht im Belieben des Betrachters, es schlägt ein und macht alles andere vergessen. So hat sich im Grunde ja wieder Antonin Artaud das Kunsterlebnis vorgestellt und gewünscht, dass es revolutioniere, dass es die Macht habe, dass der Betrachter sich von sich selbst verabschiede, um anders wiederaufzutauchen. Von diesem Programm ist allerdings Moritz noch weit entfernt. Hier ist nichts zu lesen vom Leiden an der Gesellschaft (das wiederum findet sich einschlägig im „Anton Reiser“, der selbst wohl kein Beispiel des In-sich-Vollendeten ist, zu sehr belastet er den Leser psychisch).

 

Es geht hier doch sehr idealisch zu, es kommt bei der Erfahrung des Schönen nicht zu aufrüttelnden Erlebnissen, sondern man ist hier fast bei Kleists Marionetten, die sich verschiedene mögliche Zustände vorführen und großen Spaß oder eine große Gleichgültigkeit dabei empfinden. Eben die psychische Anreicherung solcher „schönen“ Erfahrungen wären ja sehr reizvoll, also was da eigentlich passiert, wenn man sich „verliert“, oder, wie das Moritz schreibt, wenn man sich bei der Betrachtung eines schönen Gegenstands eine Beziehung auf ihn gebe. Trotz aller Trockenheit wird in diesem Aufsatz zum ersten Mal eine ganz neue Beziehung zwischen Empfänger und Objekt zugrundegelegt, der Produzent bleibt völlig unbeachtet. Nur fünf Jahre später wird das Schöne von Kant de-objektiviert. Schade eigentlich, man hätte es so gerne um sich herum gehabt.

 

Dieter Wenk (09-09)

 

Karl Philipp Moritz, Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten, in: Die Signatur des Schönen – und andere Schriften zur Begründung der Autonomieästhetik, hg. von Stefan Ripplinger, Hamburg 2009 (Philo Fine Arts, Fundus 180), S. 7-17

 

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