4. November 2003

Vor der Weiche

 

Mit der Zeit der späten 60er Jahre ist es vermutlich wie mit allen Zeiten einer dann zunehmenden Radikalisierung: Die Anfänge können für eine spätere Zeit – die der Historiker – gar nicht mehr anders als im Zusammenhang mit der nachfolgenden Zuspitzung gesehen werden. So gehört Auschwitz zum Dritten Reich, aber gehörte es auch schon 1933 oder 1925 dazu? Ist der Gulag die notwendige Folge von 1917 gewesen? Gibt es Weichenstellungen in der Geschichte, die aber erst im nachhinein als solche erkannt werden? Ohne dass diese Fragen in diesem Buch, einem Interview, gestellt werden, ergeben sie sich doch unter der Hand allein durch den Fokus der hier betrachteten Zeit, ca. 1967-1971.

So macht Thorwald Proll (Jahrgang 1941), der 1965 nach Berlin ging, mit der Kommune I in Berührung kam und an APO-Aktionen teilnahm, gleich zu Beginn des Gesprächs mit dem Journalisten Daniel Dubbe darauf aufmerksam, dass es den „Terrorismus“ 1968 weder als Wort noch als Phänomen gab: „Vom Terrorismus hat überhaupt niemand gesprochen. Wenn, dann hat man vom Terror geredet: ,Wir machen Terror!’ Im Sinne von Aktionen, Aufstand, Widerstand oder bei den Demonstrationen auffallen oder sich mit der Polizei Spiele liefern.“ Thorwald Proll gelingt es in diesem ganz unaufgeregten und völlig uneitlen Gespräch, die Zeit der Studentenunruhen, des Protests gegen Vietnam und des Hasses auf den Konsumzwang auf eine Art zu beschreiben, ohne sie nur als halb scherzhaftes Präludium der dann nachfolgenden Periode des tatsächlichen Terrorismus und der „bleiernen Zeit“ zu sehen. Das mag auch autobiografische Gründe haben, aber nicht nur. Proll gibt in seinen Erzählungen der Zeit ihre Undurchschaubarkeit, ihre Komik, aber auch ihre Tragik und ihre Ziellosigkeit im kleinen und großen Rahmen zurück. Man merkt, die Dinge waren nicht so klar, wie sie später schienen und um die sich notwendigerweise auch Legenden gebildet haben. Beinah ergreifend liest sich vor diesem Hintergrund Prolls Schilderung des nach Paris geflohenen, sich dem Haftantritt nach Ablehnung der Revision im Frankfurter Kaufhausbrandprozess entziehenden Trios Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Proll selbst (Horst Söhnlein, der vierte der „Brandstifter“, trat seine Resthaftzeit ordnungsgemäß an). „Wir waren so leicht schwebend. Abgehoben. Ein bisschen unwirklich war alles.“

Für Proll verstärkte sich diese Stimmung in Paris, wo die Drei schließlich in der Wohnung von Regis Debray landeten, der gerade in Südamerika mit Che Guevara unterwegs war. Irgendwann tauchte dann Prolls jüngere Schwester Astrid in Paris auf, und es kam zu dem, was in den Kreisen „Ersetzung“ genannt wurde. Thorwald Proll hatte den Anschluss verloren. Seine Schwester übernahm den Platz. Das Angenehme an diesem Buch ist, dass Sachen oft so stehen gelassen werden, wie Proll sie zunächst berichtet. Es gibt hier keine nachträgliche Nabelschau, keine Psychologisierungen, keine Schuldzuweisungen und Selbstrechtfertigungen. Proll ist kein Mythologisierer seiner selbst. Er schlägt kein narzisstisches Kapital daraus, mit Andreas Baader befreundet gewesen zu sein. Seine Charakterisierungen sind ziemlich trocken: „Er [Baader] hatte eben so etwas Unverschämtes und Spitzbübisches. Er war charmant und sehr auffällig. Du hast mit gesagt, es gab früher öfter solche Typen. Ich empfand es als ziemlich singulär, so wie er war.“ Der Andreas Baader, so wie er hier geschildert wird, ist vor allem ein Verführer, vom Anführer einer terroristischen Gruppe ist hier noch nichts zu sehen. Und Proll lässt die Frage offen: Was wäre passiert, wenn Baader, Ensslin, Proll und Söhnlein nicht die Reststrafe hätten antreten müssen, wenn also der Revision stattgegeben worden wäre? Vielleicht ein Grund weniger, zu verhärten, eine Zelle zu bilden? Aber auch der entscheidende Grund? Dass Frankfurt 1968 nicht die Keimzelle der RAF sein muss, zeigt noch etwas anderes: Die Fotos in diesem Buch, unter anderem vom Gerichtssaal während des Prozesses, die vor allem Thorwald Proll in einer provozierenden Ausgelassenheit zeigen, die eher mit den Marx-Brothers (er selbst als Groucho mit der Zigarre) zu tun hat als mit einer Situation, die über Freiheit oder Unfreiheit (also Gefängnis) entscheidet.

Diesem Buch wünscht man viele Leser. Es ist das Gegenteil von nostalgisch, es lockert auf, oder, wie Thorwald Proll lakonisch am Ende sagt: „Als Linke fuhren wir eben rechts ran, aber dafür auch links wieder raus.“

 

Dieter Wenk

 

Thorwald Proll/Daniel Dubbe, Wir kamen vom anderen Stern. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus, Hamburg 2003 (Edition Nautilus), br. 128 Seiten, € 9,90